Boller, Peter. "Mit Psychologie die Welt verändern" Die "Zürcher Schule" Friedrich Lieblings und die Gesellschaft 1952-1982. 2006, Doctoral Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.
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Official URL: https://edoc.unibas.ch/59965/
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Abstract
Forschungsfeld
Die Psychologische Lehr- und Beratungsstelle (PLBS) von Friedrich Liebling (1893-1982) alias „Zürcher Schule“ war zugleich eine psychologische Schule und eine soziale Bewegung. Während 20 Jahren war sie das grösste psychologische Netzwerk der Schweiz mit Gruppen auch in deutschen Grossstädten und zuletzt ca. 3000 Teilnehmern (1980). Dennoch stellt sie ein „Sonderfall“ dar, stand sie „quer“ in der ideologischen Landschaft. Ihr „Sündenfall“ war, dass sie Erfolg hatte und sich zugleich der Einbindung in die „gesellschaftliche Routine“ (Max Nettlau) entzog.
Zentrale Themen der PLBS waren Autoritäts- und Religionskritik, Lernen, gewaltfreie Erziehung, Gleichberechtigung der Frau; negiert wurde Militärdienst und Strafrecht, es bestand ein frei zugängliches und umfassendes Hilfsangebot für Eltern und Kinder (Lern-, Lese- und Studiengruppen, Erziehungsgespräche, Gemeinschaftsferien, Wohngemeinschaften, unkonventionelle Formen der Kinderbetreuung etc.). Obgleich der Begründer Friedrich Liebling eine zentrale Stellung hatte, war das erklärte Ziel nicht eine hierarchisch-institutionalisierte Gruppe, sondern eine freie, egalitäre Lerngemeinschaft. – Bereits in den 60er Jahren verkehrten bekannte Intellektuelle wie August E. Hohler, Hugo Leber oder vorübergehend auch Walter Matthias Diggelmann hier. Damals wie später zeichnete sich die Gruppe durch Heterogenität aus: viele erfolgreiche Lehrer und Ärzte, Akademiker und Künstler, Professoren und Unternehmer ebenso wie Arbeiter und Hausfrauen, Menschen mit Psychiatrieerfahrung und Suchtproblemen, ehemalige homosexuelle Szenengänger oder Kriminalisierte gehörten dazu.
Der Blick auf die Zürcher Schule zu Lebzeiten von Friedrich Liebling, d. h. in den Jahren 1952-1982, ist jedoch in dreifacher Weise verstellt: Erstens, weil Alfred Adler, dessen Individualpsychologie für die Gruppe wichtig war, innerhalb der Tiefenpsychologie (zu Unrecht) eine marginalisierte Stellung hat, wobei zugleich die Tiefenpsychologie bis heute von der Universitätspsychologie weitgehend ignoriert wird. Dabei war es Adler, der schon früh über Freud hinausging, dessen Trieb-Konzept in Frage stellte und der das Patriarchat als kulturelles Problem scharf kritisierte. Adlers praxisbezogene pädagogische Arbeit hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Doch möglicherweise schadete es seinem Ruf, dass er von Freud geächtet und zudem Sozialist war. Zweitens, weil mit den wissenschaftlich-anarchistischen Positionen, die wesentlich zur Gedankenwelt der PLBS gehörten, in der Regel weder die staatstragenden Parteien noch die Opposition, weder die Marxisten noch andere Politaktivisten etwas anfangen können. Es ging der PLBS nicht um politische Aktionen, sondern um den einzelnen Menschen, um die persönliche Entwicklung. Die Kindheit wurde als Schlüssel gesehen, um den eigene Werdegang zu verstehen und zugleich sollte mit psychologischen Rahmenbedingungen eine bessere Voraussetzung für die Erwachsenen von morgen geschaffen werden. Insofern haftete der PLBS auch ein utopischer Geist an, wollte sie auch Modell für eine künftige Gesellschaft sein. Im Wissen um die eigenen Mängel, darum, dass die Machtfrage krank macht, Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist, blieb man dem politischen Tagesgeschäft fern. Gleichzeitig beobachtete man die Weltpolitik durchaus mit wachem Interesse, nahm diese als Anschauungsmaterial für das Studium der Psychologie und hatte wohl Sympathien für eine grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft, etwa im Sinne Landauers: „Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.“ Dass solche Einstellungen mit einem konventionellen Politikbegriff nicht erfasst werden, verwundert nicht. Drittens war es so, dass die Gruppe nach dem Tod Lieblings 1982 zerfiel. Ein Teil der Leute geriet in ein rechtskatholisches Fahrwasser und gründete 1986 den Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis VPM. Auch wenn dieser von den Medien stärker beachtet wurde als die frühere Zürcher Schule, so war jene zweifellos das bedeutendere Phänomen, geistig anregender, zahlenmässig grösser und beständiger.
Zu diesen drei Erschwernissen hinzu kommt, dass die jüngere Psychologie – im Unterschied zu Psychiatrie – von der historischen Forschung als Untersuchungsgegenstand noch nicht richtig entdeckt worden ist, auch nicht im sonst als „Metropole der Psychologie“ bekannten Zürich. Die Literatur zur Zeitgeschichte weist daher gravierende Lücken auf: obwohl sie zur historischen Wirklichkeit gehören, fehlen anarchistische Aspekte ebenso wie tiefenpsychologische oder pädagogische. (Dass insbesondere in der Literatur über die 68er-Bewegung ein zentraler Autor wie A. S. Neill regelmässig ausgelassen wird, stellt einen schweren Mangel dar.) All diese Themen werden hingegen in der PLBS gebündelt.
Fragestellung
Da sich die Zürcher Schule gewissermassen im „toten Winkel“ befindet, ist es wenig sinnvoll, sie unter dem Aspekt der Psychologiegesetzgebung oder der Universitätspsychologie oder aber im Rahmen der konventionellen politischen Parteien bzw. von „Mobilisierungsstrategien“ zu betrachten. Näher liegt es (und dies auch angesichts der Quellenlage, s. u.), den Blick auf den einzelnen Menschen lenken, nach Motiven und Erfahrungen ehemaliger Teilnehmer zu fragen: welche individuellen Entwicklungsprozesse wurden durchlaufen, wie wurde die Gruppe erlebt, welchen Stellenwert hatte die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen? Es lassen sich verschiedene Erzählmuster unterscheiden, wobei vergleichbare Muster zum Teil auf einen ähnlichen Zeitpunkt des Weggangs von der Gruppe verweisen, was wiederum für die Quellenkritik bedeutsam ist.
Die Quellensituation
Bisher befasste sich erst eine wissenschaftliche Arbeit, eine Dissertation im Fachbereich Pädagogik (Neuenburg), mit Friedrich Lieblings Werk: Gerda Fellay: La conception de l’édudation de Friedrich Liebling (1893-1982). Frankfurt a. M. 1997. - Das ehemalige Archiv der Zürcher Schule ist vermutlich vernichtet worden. Leicht zugänglich sind die in verschiedenen Bibliotheken greifbaren Bücher bzw. Zeitschriftenhefte aus dem Verlag Psychologische Menschenkenntnis (1964-1988). Darin findet sich zwar reichhaltiges Material zur theoretischen und praktischen Arbeit der Gruppe, dafür werden sowohl der gesellschaftskritische Aspekt als auch Fragen zur Entwicklung der Gruppe eher zurückhaltend berührt. – In privaten Händen befindet sich eine Vielzahl von Tonbandaufnahmen von Praxisgesprächen, die teilweise transkribiert sind. Dort kommen zwar zuweilen deutlichere gesellschaftskritische Stellungnahmen vor. Nebst Datenschutzproblemen besteht die Schwierigkeit jedoch darin, dass es trotz Lücken zu viele Aufnahmen gibt, diese von unterschiedlicher Qualität sind und eine systematische Übersicht fehlt. – In der Arbeit von Fellay (1997) sind erstmals sämtliche in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften publizierten Beiträge von Friedrich Liebling und seinem frühen Mitarbeiter Josef Rattner verzeichnet, sowohl die namentlich gekennzeichneten wie auch jene, die unter Pseudonym erschienen. Auf dieser Grundlage sind nun neu verlässliche Aussagen über die frühen Einstellungen der „Gründerfiguren“ der PLBS möglich.
In der vorliegenden Untersuchung bilden Oral History-Interviews die wichtigste Quellengattung. Der Verfasser befragte 25 Personen, zumeist langjährige ehemalige Teilnehmer, so dass ein Puzzle entstand, das sowohl die Entwicklung der Gruppe als auch individuelle Motive und Prozesse veranschaulicht. – Schliesslich erhielt er durch öffentliche Archive und von privater Seite Zugang zu Polizeiakten (Fichen) und Gerichtsakten (darin enthalten sind u. a. sämtliche Stiftungsratsprotokolle bis 1983), die hier, wie die Oral History Interviews, erstmals für eine wissenschaftliche Arbeit zur Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle ausgewertet werden konnten.
Aufbau der Arbeit
Im ersten Teil wird der gesellschaftliche Hintergrund von den 50er bis in die 80er Jahre skizziert, wobei eine Tendenz der gesellschaftlichen Öffnung einer Gegentendenz der Repression (Ängste vor Subversion u. ä.) gegenübersteht. Schliesslich muss auch auf die Geschichte der Tiefenpsychologie eingegangen werden, wozu ein Exkurs auf die Anfänge in Wien gehört.
Im zweiten Teil, einem Längsschnitt (diachron), werden die verschiedenen Phasen der Gruppen beschrieben. Weniger ausgeprägt in der theoretischen Ausrichtung, stärker jedoch hinsichtlich der Veranstaltungen, werden zeittypische Unterschiede sichtbar.
Im dritten Teil schliesslich gibt eine Reihe von Themenschwerpunkten in den einzelnen Lebensläufen (synchron) über die persönliche Entwicklungen, über Gruppenfragen und über gesellschaftliche Erscheinungen Auskunft.
Resultate
Die Untersuchung zeigt, dass die PLBS in den ersten Jahren eine eher kleine Gruppe war, ideell jedoch eindeutig avantgardistische Züge aufwies, indem sie bereits früh Positionen vertrat, die erst 1968ff. auf breiterer Ebene konsensfähig wurden. Während andere soziale Bewegungen schnell wieder auseinanderbrachen oder skurrile Formen annahmen, gelang es der Zürcher Schule, eine kontinuierlich lebendige und ernsthafte Atmosphäre „sozialen Lernens“ (Hansjörg Siegenthaler) zu bewahren. Dies führte zu einem enormen Zuwachs seit den späten 60er Jahren, es wurden Gruppen in verschiedenen Grossstädten in Deutschland gebildet, die in regelmässigem Kontakt mit Zürich standen.
Verschiedene Entwicklungen führten um 1972 zu einer „sanften Institutionalisierung“ (u. a. Gründung einer Stiftung 1974), was die Gruppendynamik des im Grunde libertären Projekts veränderte und partiell konformistische Züge förderte. – Nicht dies, sondern die Grösse und der Erfolg der Gruppe erregte Argwohn von aussen, so dass sich die PLBS seit den späten 70er Jahren Angriffen von Presse und Behörden ausgesetzt sah. Eine willkürliche Rechtsauslegung (Psychotherapie wurde fälschlich als Teilgebiet der Medizin dargestellt) führte zur Verurteilung Lieblings kurz vor dessen Tod. – Unmittelbar danach wurde von einzelnen Stiftungsräten eine radikale Kursänderung betrieben, innert einem Jahr wurden mehrere Mitarbeiter ausgeschlossen, worauf zwei langjährige Stiftungsräte sowie der Stiftungsratspräsident zurücktraten.
Im breiten Spektrum individueller Erfahrungen kommt u. a. konkrete Hilfe in Lebens- und Erziehungsfragen vor, aber auch von einem Prozess der Sensibilisierung (Empathie, intellektuelles und emotionales Lernen) ist die Rede. Die Gruppe wurde von vielen als Nische bzw. Freiraum empfunden, in welchem ein menschlicheres, offeneres Klima herrschte als in der übrigen Gesellschaft. Dabei ist anzumerken, dass viele Zeitzeugen aus Gewerkschaftskreisen bzw. einem linksintellektuellen Milieu stammen, durchaus Erfahrungen mit verschiedenen sozialen Gruppen haben und nicht selten länger im Ausland gelebt hatten. Übereinstimmend wird berichtet, dass politische und kulturelle Fragen an der PLBS einen hohen Stellenwert hatten. Aufschlussreich ist nicht zuletzt, wie das Diskussionsforum des Zürcher Manifestes (1968/69) von verschiedenen Zeitzeugen erlebt wurde, woran exemplarisch die Differenzen von Selbst- und Fremdwahrnehmung der Bewegung aufgezeigt werden können.
Erscheint 2007 im Chronos Verlag
Die Psychologische Lehr- und Beratungsstelle (PLBS) von Friedrich Liebling (1893-1982) alias „Zürcher Schule“ war zugleich eine psychologische Schule und eine soziale Bewegung. Während 20 Jahren war sie das grösste psychologische Netzwerk der Schweiz mit Gruppen auch in deutschen Grossstädten und zuletzt ca. 3000 Teilnehmern (1980). Dennoch stellt sie ein „Sonderfall“ dar, stand sie „quer“ in der ideologischen Landschaft. Ihr „Sündenfall“ war, dass sie Erfolg hatte und sich zugleich der Einbindung in die „gesellschaftliche Routine“ (Max Nettlau) entzog.
Zentrale Themen der PLBS waren Autoritäts- und Religionskritik, Lernen, gewaltfreie Erziehung, Gleichberechtigung der Frau; negiert wurde Militärdienst und Strafrecht, es bestand ein frei zugängliches und umfassendes Hilfsangebot für Eltern und Kinder (Lern-, Lese- und Studiengruppen, Erziehungsgespräche, Gemeinschaftsferien, Wohngemeinschaften, unkonventionelle Formen der Kinderbetreuung etc.). Obgleich der Begründer Friedrich Liebling eine zentrale Stellung hatte, war das erklärte Ziel nicht eine hierarchisch-institutionalisierte Gruppe, sondern eine freie, egalitäre Lerngemeinschaft. – Bereits in den 60er Jahren verkehrten bekannte Intellektuelle wie August E. Hohler, Hugo Leber oder vorübergehend auch Walter Matthias Diggelmann hier. Damals wie später zeichnete sich die Gruppe durch Heterogenität aus: viele erfolgreiche Lehrer und Ärzte, Akademiker und Künstler, Professoren und Unternehmer ebenso wie Arbeiter und Hausfrauen, Menschen mit Psychiatrieerfahrung und Suchtproblemen, ehemalige homosexuelle Szenengänger oder Kriminalisierte gehörten dazu.
Der Blick auf die Zürcher Schule zu Lebzeiten von Friedrich Liebling, d. h. in den Jahren 1952-1982, ist jedoch in dreifacher Weise verstellt: Erstens, weil Alfred Adler, dessen Individualpsychologie für die Gruppe wichtig war, innerhalb der Tiefenpsychologie (zu Unrecht) eine marginalisierte Stellung hat, wobei zugleich die Tiefenpsychologie bis heute von der Universitätspsychologie weitgehend ignoriert wird. Dabei war es Adler, der schon früh über Freud hinausging, dessen Trieb-Konzept in Frage stellte und der das Patriarchat als kulturelles Problem scharf kritisierte. Adlers praxisbezogene pädagogische Arbeit hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Doch möglicherweise schadete es seinem Ruf, dass er von Freud geächtet und zudem Sozialist war. Zweitens, weil mit den wissenschaftlich-anarchistischen Positionen, die wesentlich zur Gedankenwelt der PLBS gehörten, in der Regel weder die staatstragenden Parteien noch die Opposition, weder die Marxisten noch andere Politaktivisten etwas anfangen können. Es ging der PLBS nicht um politische Aktionen, sondern um den einzelnen Menschen, um die persönliche Entwicklung. Die Kindheit wurde als Schlüssel gesehen, um den eigene Werdegang zu verstehen und zugleich sollte mit psychologischen Rahmenbedingungen eine bessere Voraussetzung für die Erwachsenen von morgen geschaffen werden. Insofern haftete der PLBS auch ein utopischer Geist an, wollte sie auch Modell für eine künftige Gesellschaft sein. Im Wissen um die eigenen Mängel, darum, dass die Machtfrage krank macht, Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist, blieb man dem politischen Tagesgeschäft fern. Gleichzeitig beobachtete man die Weltpolitik durchaus mit wachem Interesse, nahm diese als Anschauungsmaterial für das Studium der Psychologie und hatte wohl Sympathien für eine grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft, etwa im Sinne Landauers: „Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.“ Dass solche Einstellungen mit einem konventionellen Politikbegriff nicht erfasst werden, verwundert nicht. Drittens war es so, dass die Gruppe nach dem Tod Lieblings 1982 zerfiel. Ein Teil der Leute geriet in ein rechtskatholisches Fahrwasser und gründete 1986 den Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis VPM. Auch wenn dieser von den Medien stärker beachtet wurde als die frühere Zürcher Schule, so war jene zweifellos das bedeutendere Phänomen, geistig anregender, zahlenmässig grösser und beständiger.
Zu diesen drei Erschwernissen hinzu kommt, dass die jüngere Psychologie – im Unterschied zu Psychiatrie – von der historischen Forschung als Untersuchungsgegenstand noch nicht richtig entdeckt worden ist, auch nicht im sonst als „Metropole der Psychologie“ bekannten Zürich. Die Literatur zur Zeitgeschichte weist daher gravierende Lücken auf: obwohl sie zur historischen Wirklichkeit gehören, fehlen anarchistische Aspekte ebenso wie tiefenpsychologische oder pädagogische. (Dass insbesondere in der Literatur über die 68er-Bewegung ein zentraler Autor wie A. S. Neill regelmässig ausgelassen wird, stellt einen schweren Mangel dar.) All diese Themen werden hingegen in der PLBS gebündelt.
Fragestellung
Da sich die Zürcher Schule gewissermassen im „toten Winkel“ befindet, ist es wenig sinnvoll, sie unter dem Aspekt der Psychologiegesetzgebung oder der Universitätspsychologie oder aber im Rahmen der konventionellen politischen Parteien bzw. von „Mobilisierungsstrategien“ zu betrachten. Näher liegt es (und dies auch angesichts der Quellenlage, s. u.), den Blick auf den einzelnen Menschen lenken, nach Motiven und Erfahrungen ehemaliger Teilnehmer zu fragen: welche individuellen Entwicklungsprozesse wurden durchlaufen, wie wurde die Gruppe erlebt, welchen Stellenwert hatte die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen? Es lassen sich verschiedene Erzählmuster unterscheiden, wobei vergleichbare Muster zum Teil auf einen ähnlichen Zeitpunkt des Weggangs von der Gruppe verweisen, was wiederum für die Quellenkritik bedeutsam ist.
Die Quellensituation
Bisher befasste sich erst eine wissenschaftliche Arbeit, eine Dissertation im Fachbereich Pädagogik (Neuenburg), mit Friedrich Lieblings Werk: Gerda Fellay: La conception de l’édudation de Friedrich Liebling (1893-1982). Frankfurt a. M. 1997. - Das ehemalige Archiv der Zürcher Schule ist vermutlich vernichtet worden. Leicht zugänglich sind die in verschiedenen Bibliotheken greifbaren Bücher bzw. Zeitschriftenhefte aus dem Verlag Psychologische Menschenkenntnis (1964-1988). Darin findet sich zwar reichhaltiges Material zur theoretischen und praktischen Arbeit der Gruppe, dafür werden sowohl der gesellschaftskritische Aspekt als auch Fragen zur Entwicklung der Gruppe eher zurückhaltend berührt. – In privaten Händen befindet sich eine Vielzahl von Tonbandaufnahmen von Praxisgesprächen, die teilweise transkribiert sind. Dort kommen zwar zuweilen deutlichere gesellschaftskritische Stellungnahmen vor. Nebst Datenschutzproblemen besteht die Schwierigkeit jedoch darin, dass es trotz Lücken zu viele Aufnahmen gibt, diese von unterschiedlicher Qualität sind und eine systematische Übersicht fehlt. – In der Arbeit von Fellay (1997) sind erstmals sämtliche in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften publizierten Beiträge von Friedrich Liebling und seinem frühen Mitarbeiter Josef Rattner verzeichnet, sowohl die namentlich gekennzeichneten wie auch jene, die unter Pseudonym erschienen. Auf dieser Grundlage sind nun neu verlässliche Aussagen über die frühen Einstellungen der „Gründerfiguren“ der PLBS möglich.
In der vorliegenden Untersuchung bilden Oral History-Interviews die wichtigste Quellengattung. Der Verfasser befragte 25 Personen, zumeist langjährige ehemalige Teilnehmer, so dass ein Puzzle entstand, das sowohl die Entwicklung der Gruppe als auch individuelle Motive und Prozesse veranschaulicht. – Schliesslich erhielt er durch öffentliche Archive und von privater Seite Zugang zu Polizeiakten (Fichen) und Gerichtsakten (darin enthalten sind u. a. sämtliche Stiftungsratsprotokolle bis 1983), die hier, wie die Oral History Interviews, erstmals für eine wissenschaftliche Arbeit zur Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle ausgewertet werden konnten.
Aufbau der Arbeit
Im ersten Teil wird der gesellschaftliche Hintergrund von den 50er bis in die 80er Jahre skizziert, wobei eine Tendenz der gesellschaftlichen Öffnung einer Gegentendenz der Repression (Ängste vor Subversion u. ä.) gegenübersteht. Schliesslich muss auch auf die Geschichte der Tiefenpsychologie eingegangen werden, wozu ein Exkurs auf die Anfänge in Wien gehört.
Im zweiten Teil, einem Längsschnitt (diachron), werden die verschiedenen Phasen der Gruppen beschrieben. Weniger ausgeprägt in der theoretischen Ausrichtung, stärker jedoch hinsichtlich der Veranstaltungen, werden zeittypische Unterschiede sichtbar.
Im dritten Teil schliesslich gibt eine Reihe von Themenschwerpunkten in den einzelnen Lebensläufen (synchron) über die persönliche Entwicklungen, über Gruppenfragen und über gesellschaftliche Erscheinungen Auskunft.
Resultate
Die Untersuchung zeigt, dass die PLBS in den ersten Jahren eine eher kleine Gruppe war, ideell jedoch eindeutig avantgardistische Züge aufwies, indem sie bereits früh Positionen vertrat, die erst 1968ff. auf breiterer Ebene konsensfähig wurden. Während andere soziale Bewegungen schnell wieder auseinanderbrachen oder skurrile Formen annahmen, gelang es der Zürcher Schule, eine kontinuierlich lebendige und ernsthafte Atmosphäre „sozialen Lernens“ (Hansjörg Siegenthaler) zu bewahren. Dies führte zu einem enormen Zuwachs seit den späten 60er Jahren, es wurden Gruppen in verschiedenen Grossstädten in Deutschland gebildet, die in regelmässigem Kontakt mit Zürich standen.
Verschiedene Entwicklungen führten um 1972 zu einer „sanften Institutionalisierung“ (u. a. Gründung einer Stiftung 1974), was die Gruppendynamik des im Grunde libertären Projekts veränderte und partiell konformistische Züge förderte. – Nicht dies, sondern die Grösse und der Erfolg der Gruppe erregte Argwohn von aussen, so dass sich die PLBS seit den späten 70er Jahren Angriffen von Presse und Behörden ausgesetzt sah. Eine willkürliche Rechtsauslegung (Psychotherapie wurde fälschlich als Teilgebiet der Medizin dargestellt) führte zur Verurteilung Lieblings kurz vor dessen Tod. – Unmittelbar danach wurde von einzelnen Stiftungsräten eine radikale Kursänderung betrieben, innert einem Jahr wurden mehrere Mitarbeiter ausgeschlossen, worauf zwei langjährige Stiftungsräte sowie der Stiftungsratspräsident zurücktraten.
Im breiten Spektrum individueller Erfahrungen kommt u. a. konkrete Hilfe in Lebens- und Erziehungsfragen vor, aber auch von einem Prozess der Sensibilisierung (Empathie, intellektuelles und emotionales Lernen) ist die Rede. Die Gruppe wurde von vielen als Nische bzw. Freiraum empfunden, in welchem ein menschlicheres, offeneres Klima herrschte als in der übrigen Gesellschaft. Dabei ist anzumerken, dass viele Zeitzeugen aus Gewerkschaftskreisen bzw. einem linksintellektuellen Milieu stammen, durchaus Erfahrungen mit verschiedenen sozialen Gruppen haben und nicht selten länger im Ausland gelebt hatten. Übereinstimmend wird berichtet, dass politische und kulturelle Fragen an der PLBS einen hohen Stellenwert hatten. Aufschlussreich ist nicht zuletzt, wie das Diskussionsforum des Zürcher Manifestes (1968/69) von verschiedenen Zeitzeugen erlebt wurde, woran exemplarisch die Differenzen von Selbst- und Fremdwahrnehmung der Bewegung aufgezeigt werden können.
Erscheint 2007 im Chronos Verlag
Advisors: | Schaffner, Martin |
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Faculties and Departments: | 04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Historisches Seminar |
UniBasel Contributors: | Schaffner, Martin |
Item Type: | Thesis |
Thesis Subtype: | Doctoral Thesis |
Thesis no: | UNSPECIFIED |
Thesis status: | Complete |
Last Modified: | 12 Mar 2018 07:56 |
Deposited On: | 06 Feb 2018 11:23 |
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