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Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt

Falk, Francesca. Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt. 2009, Doctoral Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60075/

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Abstract

Die Schnabelmasken auf dem Frontispitz des «Leviathan», das leere Land bei John Locke, Fotografien von Carleton Watkins, die Mundschutzmaske eines Militärpolizisten, die koloniale Vorgeschichte der Abschiebelager, die Pestpolitik und die Sans-Papiers – Francesca Falk entwickelt eine gestische Geschichte der Grenze. Sie setzt aus Steinen, die voneinander nichts wissen, ein Mosaik zusammen. Das Mosaik schält territoriale Grenzen aus Programmen von Sichtbarmachung und Transparenz, entblösst ihre Geschichtlichkeit und zeigt sie als Bruchlinien unserer Gesellschaft, die Gewalt produzieren. Grenzen beherrschen seit einigen Jahren gesellschaftliche und politische Debatten und inspirieren zahlreiche künstlerische und wissenschaftliche Arbeiten. Diese Studien sind meist räumlich, zeitlich und sachlich stark fokussiert. Francesca Falk wählt einen anderen Ansatz. Da das Abstrakte nicht ohne Rückgriff auf das Anschauliche zu denken ist, nimmt sie mehrere konkrete Konstellationen sowie weiterwirkende Wechselbeziehungen gleichzeitig in den Blick. Wesentliche Pole der Arbeit bilden die Begriffe Grenzevidenz und Grenzkontingenz. Die Autorin macht die denkkonstitutive Wirkung von bildlichen wie sprachlichen Prämissen, die Grenzevidenz generier(t)en, sichtbar und damit Grenzkontingenz in Geschichte und Gegenwart wahrnehmbar. Gerade weil jede Grenze in einem gewissen Sinne kontingent ist, besteht für die gesellschaftliche Ordnung ein Erfordernis Grenzevidenz herzustellen. Scheitern diese Evidenzeffekte, gelten Grenzen als willkürlich, nicht natürlich, als gemacht, nicht gegeben, als kontingent, nicht evident. Evidenz und Kontingenz sind indes nicht sich ausschliessende, sondern verschränkt funktionierende Gegensatzpaare: Jede Evidenzerzeugung kann auf das ihr inhärente Kontingent hin befragt werden. Deshalb werden in dieser Studie jene Orte aufgesucht, wo trotz vermeintlich generierter Grenzevidenz die Kontingenz der Grenze erkennbar ist. Grenzpotenz beruht allerdings nicht nur auf Evidenz – im Sinne der Erzeugung von Anschaulichkeit – sondern auch auf Strategien der Unsichtbarmachung, des Bildverbots und des Blickentzugs, was die Autorin mit dem Begriff der Grenztransparenz fasst. Denn die undurchdringbarste Grenze ist jene, die nicht als Grenze wahrnehmbar ist.Die Arbeit beginnt bei John Locke, dem «Vater» des Liberalismus, und seinem Gesellschaftsvertrag im «Second Treatise». Demnach sollen sich Individuen freiwillig einem Gesellschaftsvertrag anschliessen. Falk interessiert sich bei dieser Gründungsschrift des Liberalismus für das oft Übersehene: Auch die vom Vertrag Ausgeschlossenen sind von ihm betroffen und werden in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, können sich aber nicht aktiv dazu verhalten. Politische Grenzen unterliegen somit keiner freien Entscheidung beider Seiten. John Locke muss «leeres Land» in Amerika postulieren, um sein Konzept der Staatsgründung zu legitimieren. Bildlich umgesetzt hat diese Leere der Fotograf Carleton Watkins. Im 19. Jahrhundert fotografierte er den Westen der USA und wurde mit Bildern des späteren Yosemite Nationalparks berühmt. Dass Bilder desselben Fotografen vor Gericht bei Grenzstreitigkeiten verwendet wurden, ergibt eine zu John Locke in ihrer Widersprüchlichkeit entsprechende Konstellation.Für Thomas Hobbes hingegen war Amerika mit seinen Indianern nicht leeres Land, sondern die Vergegenwärtigung des Naturzustands. So werden auf dem ersten Frontispiz von Hobbes´ «De Cive» Naturzustand («Libertas») und Staatsgewalt («Imperium») einander dichotomisch gegenübergestellt. Dabei wird auch das Frontispiz des «Leviathan», das Emblem des Body Politic, in gänzlich neue Zusammenhänge gestellt, und zwar in den Zusammenhang von Sanität, Souveränität und Selektion sowie einer beginnenden Biopolitik. Die Schnabelmasken der in der Forschung kaum beachteten Pestärzte werden dabei zum Schwer- und Drehpunkt der Interpretation. Sie lenken den Blick auf die Gewaltsamkeit der Grenzziehung, die nötig war, um die souveräne Ganzheit und Abgeschlossenheit des Staatskörpers herzustellen. Eine Kontrolle und Kanalisation der Bewegung entstand wesentlich im Zuge einer Pestpolitik. Medizinische Dispositive waren wichtig für die Etablierung und Legitimierung von Grenzen. So riefen Seuchenmassnahmen neue staatliche Strukturen und neue Formen der Grenz- und Migrationskontrolle ins Leben. Die Schnabelmaske findet eine Fortsetzung in der Mundschutzmaske des fotografierten Militärpolizisten, der Bootsflüchtlinge «empfängt». Die Maske deutet auf die Angst vor Ansteckung. In solchen Bildern überlagern sich territoriale Grenzen mit Körpergrenzen: Migration erscheint hier als Angriff auf die Integrität des eigenen Körpers. Bootsflüchtlinge, die an den Grenzen Europas stranden, sind in den Medien regelmässig sichtbar. Unsichtbar dagegen bleiben meist die Abschaffungsinsassen. Ihre Lager befinden sich meist in der Peripherie der Städte. Mediale Bilder, die diese zeigen, zirkulieren selten. Eine Genealogie der Abschiebelager verdeutlicht, dass die «Ursprünge» dieser Institution u.a. auf koloniale Kontexte im In- und Ausland zurückzuführen sind, was die gegenwärtige Illegalisierung der Immigration in neuer Weise auch aus einer postkolonialen Perspektive befragbar macht. Ausgehend von historischen Fallstudien verhandelt Francesca Falk zeitgenössisch dringende Fragen, so beispielsweise ein (Menschen-) Recht auf Migration. Doch wird heute die Aufnahme von Migrierenden als Entscheidungsbefugnis souveräner Staaten betrachtet: «Illegale Migration» wird aus einer solchen Perspektive als Angriff auf die staatliche Souveränität verstanden. Während eine Machtausübung im Sinne der Souveränität nach Foucault die Bewegung der Menschen streng kontrollieren will, wird unter den Bedingungen der Gouvernementalität gerade die Zirkulation und die Bewegungsfreiheit für einen gewissen Personenkreis ökonomisch fruchtbar gemacht, denn es gibt einen Bedarf nach flexiblen Arbeitskräften, die aus «eigenem Antrieb» dahin ziehen, wo es für sie Arbeit gibt. Der Prototyp der flexiblen Arbeitskraft sind die Sans-Papiers. Ihre Existenz resultiert aus der Tatsache, dass eine programmatisch dichte Grenze in der Tradition der Souveränität proklamiert wird, diese Grenze aber nicht hermetisch funktioniert. Gleichzeitig wird durch die drakonische Abschiebehaft ein Strafexempel statuiert, das wie der Hobbes’sche «Leviathan» über einen Effekt der Abschreckung wirken soll, und zwar ebenfalls auf die «regularisierten» Immigrantinnen und Immigranten, die selbst von Zwangsmassnahmen betroffen sein und ihre Aufenthaltsbewilligung verlieren können. In der Tradition von Thomas Hobbes dient Politische Philosophie der Evidenzerzeugung des Staates. Ihre Grundfrage lautet, wie der Staat gegenüber seinen Bürgern legitimiert werden kann. Der Staat ist in einer solchen Denktradition nur gegenüber seinen Mitgliedern begründungsverpflichtet. Doch gerade dies wird in der gegenwärtigen politischen Theorie kritisiert. Diese Studie auf der Grenze zwischen Geschichtswissenschaft, Bildanalyse und politischer Theorie steht in dieser Denkrichtung. Falks Argumentation mit und gegen Giorgio Agamben, Michel Foucault, Thomas Hobbes und John Locke steigt dabei aus der traditionellen politischen Ideengeschichte aus und dringt zur Bildlichkeit der politischen Theorie vor. Bilder stossen unser Denken an, grenzen es ein, organisieren unsere Argumentationssysteme. Dies wiederum beeinflusst auch das Sehen von Grenzen und damit die Wahrnehmung der Migration. Francesca Falk wählt eine gestische Geschichtsschreibung, die auf einer Strategie des reduktionistischen Schreibens beruht, auf einem Prinzip der Verdichtung und Unterbrechung. Die Studie zeigt, wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt. 
Advisors:Freiherr von Müller, Achatz
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Geschichte des Mittelalters (Freiherr von Müller)
UniBasel Contributors:Falk, Francesca and Freiherr von Müller, Achatz
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Doctoral Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:12 Mar 2018 07:57
Deposited On:06 Feb 2018 11:24

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