Fürstenberger, Nicole. Normale und ver-rückte Andere. Psychisch kranke Frauen um die Jahrhundertwende (1900) und die Konstruktion des Wahnsinns. 2005, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.
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Abstract
Wo und wie wurden am Ende des 19. Jahrhunderts die Grenzen des „Normalen“ gezogen? Was geschah mit den jenseits dieser Grenze als geisteskrank Stigmatisierten? Welche Bedeutung hat die Geschlechtszugehörigkeit für die Diagnostizierung von Geisteskrankheit? Dies sind die drei Leitfragen der Lizentiatsarbeit, die sich in erster Linie auf Justiz- und Sanitätsakten des Staatsarchivs Basel, auf den Nachlass einer als „irr“ eingestuften Frau und auf zeitgenössische psychiatrische Literatur stützt. Die Arbeit gliedert sich in einen theoretischen Teil, gefolgt von der Nachzeichnung der Geschichte zweier als geisteskrank eingestufter Frauen und der Analyse ihrer Diagnosen und bewegt sich in einem zeitlichen Rahmen von etwa 1880 bis 1910.
Das erste Kapitel behandelt den Begriff der Normalität. Als normal wird gewöhnlich das angesehen, was mehr oder weniger dem Durchschnitt der Verhaltensweisen entspricht. Die Grenze der Normalität ist eine Toleranzgrenze. Überschreitet ein Verhalten diese persönliche, gesellschaftliche oder kulturelle, implizit vorgegebene Grenze, ist es nicht mehr „normal“, es stört den anderen. Es wird analysiert, wie sich um 1900 im Konzept der Normalität psychiatrische, staatspolitische und juristische Diskursfelder miteinander verbanden. Zuerst stand „normal“ noch klar mit „nicht deviant“ in Beziehung, doch fand dann eine Verbindung mit dem für die Gesellschaft Tragbaren statt. Dies zeigt sich beispielsweise in Krankheitsbezeichnungen wie „Hafthysterie“ oder „Querulantenwahn“. Was die Mitmenschen beeinträchtigt wird zur Krankheit des Anderen. Besonderes Augenmerk gilt in diesem Kapitel der Verknüpfung von Armut und Wahnsinn sowie der Verbindung von weiblichem „Geschlechtscharakter“ und Geisteskrankheit. Armen- und Irrenhäuser waren im Mittelalter ein und dieselbe Einrichtung. Diese Verbindung bestand im 19. Jahrhundert zwar nicht mehr institutionell jedoch ideell weiter. Unverändert bleibt bis heute, dass der grössere Teil der Armen weiblichen Geschlechts sind und waren. Ein kurzer Exkurs im ersten Kapitel skizziert die Entwicklung der Psychiatrie in Mitteleuropa und verschafft einen Überblick über die verschiedenen Ansätze und Richtungen in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts.
In Kapitel zwei wird anhand von Schriften der „Irrenärzte“ – so der zeitgenössische Begriff – Paul Julius Möbius (1853-1907) und Auguste Forel (1848-1931) das Geschlechterbild der Jahrhundertwende nachgezeichnet und gezeigt, wie bestehende Weiblichkeitsbilder pathologisiert wurden und auf das bereits vorhandene Bild zurückwirkten. Die empirisch klaren und sichtbaren, physischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern (sexes), wie die somatische Medizin sie kennt, wurden in der Psychiatrie erweitert und zu Unterschieden zwischen „Geschlechtsmerkmalen“ (gender) gemacht. „Sex“ und „gender“ wurden dabei zu einem Einzigen zusammengefügt. Solange das Geschlechtsbild mit dem Geschlecht übereinstimmte, eine Frau sich „wie eine Frau“ benahm, war der Erhalt der sozialen Ordnung und die Struktur der Gesellschaft gesichert, womit die Psychiatrie einerseits dem herrschenden Normendiskurs unterlag, ihn andererseits selbst unterstützte, mitkonstruierte und „wissenschaftlich“ begründete. Die genannten Ärzte Möbius und Forel vertraten die beiden Extrempunkte des Geschlechterbildes ihrer Zeit. In den zentralen Zielen unterscheiden sie sich signifikant; ihre Konzeptionen von weiblicher Sexualität sind konträr. Während Forel Sexualität und Fortpflanzung trennte und in der Frauenbewegung eine Bündnispartnerin dieser Auffassung sah, vertrat Möbius den Standpunkt, die Fortpflanzung sei die einzige Aufgabe der Frau, was einen in die Physiologie „des Weibes“ eingeschriebenen Schwachsinn notwendig mache. Trotz der ganz klaren Unterschiede in ihrer Beurteilung der weiblichen Sexualität und des weiblichen Intellekts stimmen die beiden erstaunlicherweise in vielem implizit überein. Diese Aussagen können als Schnittmenge der zeitgenössischen Geschlechterkonzeption beurteilt werden.
In Anlehnung an E. Goffmann geht das dritte Kapitel auf den Begriff des „Stigma“ ein und beschreibt die Logik von Stigmatisierungsprozessen. Personen werden an einer jeder Gesellschaft inhärenten Norm gemessen und deviantes Verhalten führt zur Stigmatisierung (in der soziologischen Forschung oft als „Devianz“, „Labelling“ bzw. „Etikettierung“ bezeichnet) und Ausgrenzung. Abweichendes Verhalten von Frauen stand unter besonders hohem Sanktionsdruck und es war sehr schwierig, das Stigma der Geisteskrankheit wieder loszuwerden. Doch selbst das hartnäckige Stigma „Geisteskrankheit“ ist bis zu einem gewissen Grad kultur- und epochenabhängig, was z.B. ein Vergleich mit asiatischen Kulturen zeigen könnte. In einer Kultur, die Frauen als minderwertig oder „deviant“ betrachtet, ist bereits die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht ein Stigma. Das strenge Rollenbild, das „Normalität“ und Verhalten von Frauen sehr eng fasst, macht sie besonders anfällig, Opfer von Stigmatisierungsprozessen zu werden.
Die Kapitel vier und fünf sind den Geschichten von Christine von H. (1848-1920), einer adligen, deutschen Alleinerbin und promovierten Historikerin, und Elisabeth B. (1873-?), einer einfachen, ungebildeten Arbeiterfrau aus Ungarn, gewidmet. Beide waren geschiedene, als geisteskrank eingestufte Frauen und verbrachten einige Zeit ihres Lebens in Basel. Die Akten ihrer Geschichten sind im Staatsarchiv Basel bei den Sanitätsakten zu finden.
Ausgehend von einer biographischen Skizze wird gezeigt, wie Christine von H. aufgrund eines familiären Konfliktes in einen Mechanismus von psychiatrischer Zuschreibung geriet, dem sie sich bis an ihr Lebensende trotz aller Bemühungen nicht mehr entziehen konnte. Aus der ersten Erwähnung von „geisteskrank“ im privaten Umfeld entwickelt sich unter Mitwirkung von Ärzten – zuerst sogar ohne Untersuchung der Frau – eine psychiatrische Diagnose, die schliesslich zur Entmündigung der Christine von H. führte. Die alltägliche Umgebung der Betroffenen schien die Stigmatisierung als „Paranoikerin“ nur bedingt oder gar nicht nachzuvollziehen. In Basel, wohin sie von Deutschland aus geflohen war, um ihrem sie verfolgenden Bruder und der drohenden Einweisung in eine Irrenanstalt zu entgehen, gab es viele Personen ihrer Umgebung, die gemäss eigenen Aussagen nichts von der angeblichen Geisteskrankheit der Frau bemerkten. Doch auch in der Schweiz wurde die Polizei und der „Stadtphysikus“ wegen Hinweisen von Christine von H.s Bruder auf die Frau aufmerksam. Christine von H. verwickelte sich immer mehr in die zahlreichen Diagnosen aus Deutschland, privaten Umkreisen und Basel und bat alle möglichen Leute um Atteste für ihre Gesundheit. Damit begab sie sich in grosse Abhängigkeit vom Urteil Dritter und trug anstatt zur Befreiung noch mehr zu ihrer Etikettierung als „Irre“ bei.
Die Nachzeichnung von Elisabeth B.s Fallgeschichte beginnt mit der Thematisierung des Scheidungsprozesses, den diese durch ihre Klage wegen Misshandlung gegen ihren Mann anstrengte und in dem sie ihre Forderungen durchsetzte. Der Fall wird im Kontext der damaligen Scheidungspraxis betrachtet und es kommen viele Elemente vor, die paradigmatisch waren für Scheidungen um die Jahrhundertwende. Die Analyse ist wichtig, weil im Scheidungsprozess keine Anzeichen für die spätere Erkrankung von Elisabeth B. vorkamen. Vorurteile und „Etiketten“, die an ihr hafteten, gingen lediglich in Richtung Fremdenfeindlichkeit gegen die „eingeheiratete“ Schweizerin und „heissblütige Orientalin“. Erst nach der Scheidung schien das auffallende Verhalten zu beginnen. Als Dienstmagd in unterschiedlichen Anstellungen hatte sie Schwierigkeiten mit ihren Arbeitgeberinnen, was nicht ungewöhnlich war. Das schwere Leben eines Dienstmädchens dieser Zeit darf im Zusammenhang mit Elisabeth B.s Geschichte und Krankheit nicht unterschätzt werden. Zudem wurde sie nach der Scheidung von ihrem gewalttätigen Ehemann verfolgt. Nachdem sie von den tatsächlichen Nachstellungen befreit worden war, begann sie sich weitere Verfolgungen und Überwachungen einzubilden – so die behördliche Ausdrucksweise. Es kam zur Anzeige, ärztlichen Untersuchungen und schliesslich zur Einweisung in die Irrenanstalt mit der Diagnose „hysterische Paranoia“. Damit beginnt die zweite Fallgeschichte, die 1909 mit der Versorgung von Elisabeth B. in der Heilanstalt Königsfelden endet. Die Geschichte wird rekonstruiert, indem das Aktenmaterial jeweils auf zwei Arten gelesen wird, nämlich entlang der „Logik“ von Elisabeth B., sowie auf der Argumentationslinie der Behörden und Ärzte.
Das sechste Kapitel verfolgt das Ziel, die Diagnosen von Christine von H. und Elisabeth B. anhand von Emil Kraepelins (1856-1926) Nosographie (Krankheitsbeschreibung) im zeitgenössischen medizinisch-psychiatrischen Diskurs zu definieren. Das in den Akten dokumentierte Verhalten der Frauen wurde von Ärzten und der Umgebung von Christine von H. und Elisabeth B. pathologisiert und den möglichen, in der Krankheitslehre aufgeführten Diagnosen angepasst.
Sowohl Christine von H. wie auch Elisabeth B. fielen auf mehrfache Weise aus ihrer Rolle als „normale Frauen“, was eine wichtige Ursache für die Stigmatisierung und Pathologisierung der beiden war. Christine von H. heiratete als Adlige einen Bürgerlichen und liess sich wieder scheiden, sie studierte und arbeitete wissenschaftlich, sie reiste allein in der Welt herum und führte Prozesse. Elisabeth war die Tochter eines „deutsch-ungarischen Desserteurs und einer Kroatin“, sie setzte sich als Dienstmädchen zur Wehr gegen ungerechte Behandlung seitens ihrer Herrschaft, sie liess sich scheiden und gewann den Prozess und das Sorgerecht für ihren Sohn. Mit ihrem „devianten“ Verhalten machten die beiden Frauen auf sich aufmerksam. Sie waren anders als die Mehrheit ihrer Zeitgenossinnen, was Ärger, Unbehagen und Unsicherheit hervorrief. Die Arbeit versucht zu zeigen, dass die Welt der Anderen und Fremden, also auch die von devianten, oder (vielleicht) geisteskranken Personen, keine Gegenwelt ist, sondern bloss eine, aus „Normalperspektive“ gesehen, verschobene Wirklichkeit. So wie die „Anderen“ uns fremd oder „verrückt“ scheinen, so ver-rückt sind wir selbst aus einer anderen Perspektive.
Das erste Kapitel behandelt den Begriff der Normalität. Als normal wird gewöhnlich das angesehen, was mehr oder weniger dem Durchschnitt der Verhaltensweisen entspricht. Die Grenze der Normalität ist eine Toleranzgrenze. Überschreitet ein Verhalten diese persönliche, gesellschaftliche oder kulturelle, implizit vorgegebene Grenze, ist es nicht mehr „normal“, es stört den anderen. Es wird analysiert, wie sich um 1900 im Konzept der Normalität psychiatrische, staatspolitische und juristische Diskursfelder miteinander verbanden. Zuerst stand „normal“ noch klar mit „nicht deviant“ in Beziehung, doch fand dann eine Verbindung mit dem für die Gesellschaft Tragbaren statt. Dies zeigt sich beispielsweise in Krankheitsbezeichnungen wie „Hafthysterie“ oder „Querulantenwahn“. Was die Mitmenschen beeinträchtigt wird zur Krankheit des Anderen. Besonderes Augenmerk gilt in diesem Kapitel der Verknüpfung von Armut und Wahnsinn sowie der Verbindung von weiblichem „Geschlechtscharakter“ und Geisteskrankheit. Armen- und Irrenhäuser waren im Mittelalter ein und dieselbe Einrichtung. Diese Verbindung bestand im 19. Jahrhundert zwar nicht mehr institutionell jedoch ideell weiter. Unverändert bleibt bis heute, dass der grössere Teil der Armen weiblichen Geschlechts sind und waren. Ein kurzer Exkurs im ersten Kapitel skizziert die Entwicklung der Psychiatrie in Mitteleuropa und verschafft einen Überblick über die verschiedenen Ansätze und Richtungen in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts.
In Kapitel zwei wird anhand von Schriften der „Irrenärzte“ – so der zeitgenössische Begriff – Paul Julius Möbius (1853-1907) und Auguste Forel (1848-1931) das Geschlechterbild der Jahrhundertwende nachgezeichnet und gezeigt, wie bestehende Weiblichkeitsbilder pathologisiert wurden und auf das bereits vorhandene Bild zurückwirkten. Die empirisch klaren und sichtbaren, physischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern (sexes), wie die somatische Medizin sie kennt, wurden in der Psychiatrie erweitert und zu Unterschieden zwischen „Geschlechtsmerkmalen“ (gender) gemacht. „Sex“ und „gender“ wurden dabei zu einem Einzigen zusammengefügt. Solange das Geschlechtsbild mit dem Geschlecht übereinstimmte, eine Frau sich „wie eine Frau“ benahm, war der Erhalt der sozialen Ordnung und die Struktur der Gesellschaft gesichert, womit die Psychiatrie einerseits dem herrschenden Normendiskurs unterlag, ihn andererseits selbst unterstützte, mitkonstruierte und „wissenschaftlich“ begründete. Die genannten Ärzte Möbius und Forel vertraten die beiden Extrempunkte des Geschlechterbildes ihrer Zeit. In den zentralen Zielen unterscheiden sie sich signifikant; ihre Konzeptionen von weiblicher Sexualität sind konträr. Während Forel Sexualität und Fortpflanzung trennte und in der Frauenbewegung eine Bündnispartnerin dieser Auffassung sah, vertrat Möbius den Standpunkt, die Fortpflanzung sei die einzige Aufgabe der Frau, was einen in die Physiologie „des Weibes“ eingeschriebenen Schwachsinn notwendig mache. Trotz der ganz klaren Unterschiede in ihrer Beurteilung der weiblichen Sexualität und des weiblichen Intellekts stimmen die beiden erstaunlicherweise in vielem implizit überein. Diese Aussagen können als Schnittmenge der zeitgenössischen Geschlechterkonzeption beurteilt werden.
In Anlehnung an E. Goffmann geht das dritte Kapitel auf den Begriff des „Stigma“ ein und beschreibt die Logik von Stigmatisierungsprozessen. Personen werden an einer jeder Gesellschaft inhärenten Norm gemessen und deviantes Verhalten führt zur Stigmatisierung (in der soziologischen Forschung oft als „Devianz“, „Labelling“ bzw. „Etikettierung“ bezeichnet) und Ausgrenzung. Abweichendes Verhalten von Frauen stand unter besonders hohem Sanktionsdruck und es war sehr schwierig, das Stigma der Geisteskrankheit wieder loszuwerden. Doch selbst das hartnäckige Stigma „Geisteskrankheit“ ist bis zu einem gewissen Grad kultur- und epochenabhängig, was z.B. ein Vergleich mit asiatischen Kulturen zeigen könnte. In einer Kultur, die Frauen als minderwertig oder „deviant“ betrachtet, ist bereits die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht ein Stigma. Das strenge Rollenbild, das „Normalität“ und Verhalten von Frauen sehr eng fasst, macht sie besonders anfällig, Opfer von Stigmatisierungsprozessen zu werden.
Die Kapitel vier und fünf sind den Geschichten von Christine von H. (1848-1920), einer adligen, deutschen Alleinerbin und promovierten Historikerin, und Elisabeth B. (1873-?), einer einfachen, ungebildeten Arbeiterfrau aus Ungarn, gewidmet. Beide waren geschiedene, als geisteskrank eingestufte Frauen und verbrachten einige Zeit ihres Lebens in Basel. Die Akten ihrer Geschichten sind im Staatsarchiv Basel bei den Sanitätsakten zu finden.
Ausgehend von einer biographischen Skizze wird gezeigt, wie Christine von H. aufgrund eines familiären Konfliktes in einen Mechanismus von psychiatrischer Zuschreibung geriet, dem sie sich bis an ihr Lebensende trotz aller Bemühungen nicht mehr entziehen konnte. Aus der ersten Erwähnung von „geisteskrank“ im privaten Umfeld entwickelt sich unter Mitwirkung von Ärzten – zuerst sogar ohne Untersuchung der Frau – eine psychiatrische Diagnose, die schliesslich zur Entmündigung der Christine von H. führte. Die alltägliche Umgebung der Betroffenen schien die Stigmatisierung als „Paranoikerin“ nur bedingt oder gar nicht nachzuvollziehen. In Basel, wohin sie von Deutschland aus geflohen war, um ihrem sie verfolgenden Bruder und der drohenden Einweisung in eine Irrenanstalt zu entgehen, gab es viele Personen ihrer Umgebung, die gemäss eigenen Aussagen nichts von der angeblichen Geisteskrankheit der Frau bemerkten. Doch auch in der Schweiz wurde die Polizei und der „Stadtphysikus“ wegen Hinweisen von Christine von H.s Bruder auf die Frau aufmerksam. Christine von H. verwickelte sich immer mehr in die zahlreichen Diagnosen aus Deutschland, privaten Umkreisen und Basel und bat alle möglichen Leute um Atteste für ihre Gesundheit. Damit begab sie sich in grosse Abhängigkeit vom Urteil Dritter und trug anstatt zur Befreiung noch mehr zu ihrer Etikettierung als „Irre“ bei.
Die Nachzeichnung von Elisabeth B.s Fallgeschichte beginnt mit der Thematisierung des Scheidungsprozesses, den diese durch ihre Klage wegen Misshandlung gegen ihren Mann anstrengte und in dem sie ihre Forderungen durchsetzte. Der Fall wird im Kontext der damaligen Scheidungspraxis betrachtet und es kommen viele Elemente vor, die paradigmatisch waren für Scheidungen um die Jahrhundertwende. Die Analyse ist wichtig, weil im Scheidungsprozess keine Anzeichen für die spätere Erkrankung von Elisabeth B. vorkamen. Vorurteile und „Etiketten“, die an ihr hafteten, gingen lediglich in Richtung Fremdenfeindlichkeit gegen die „eingeheiratete“ Schweizerin und „heissblütige Orientalin“. Erst nach der Scheidung schien das auffallende Verhalten zu beginnen. Als Dienstmagd in unterschiedlichen Anstellungen hatte sie Schwierigkeiten mit ihren Arbeitgeberinnen, was nicht ungewöhnlich war. Das schwere Leben eines Dienstmädchens dieser Zeit darf im Zusammenhang mit Elisabeth B.s Geschichte und Krankheit nicht unterschätzt werden. Zudem wurde sie nach der Scheidung von ihrem gewalttätigen Ehemann verfolgt. Nachdem sie von den tatsächlichen Nachstellungen befreit worden war, begann sie sich weitere Verfolgungen und Überwachungen einzubilden – so die behördliche Ausdrucksweise. Es kam zur Anzeige, ärztlichen Untersuchungen und schliesslich zur Einweisung in die Irrenanstalt mit der Diagnose „hysterische Paranoia“. Damit beginnt die zweite Fallgeschichte, die 1909 mit der Versorgung von Elisabeth B. in der Heilanstalt Königsfelden endet. Die Geschichte wird rekonstruiert, indem das Aktenmaterial jeweils auf zwei Arten gelesen wird, nämlich entlang der „Logik“ von Elisabeth B., sowie auf der Argumentationslinie der Behörden und Ärzte.
Das sechste Kapitel verfolgt das Ziel, die Diagnosen von Christine von H. und Elisabeth B. anhand von Emil Kraepelins (1856-1926) Nosographie (Krankheitsbeschreibung) im zeitgenössischen medizinisch-psychiatrischen Diskurs zu definieren. Das in den Akten dokumentierte Verhalten der Frauen wurde von Ärzten und der Umgebung von Christine von H. und Elisabeth B. pathologisiert und den möglichen, in der Krankheitslehre aufgeführten Diagnosen angepasst.
Sowohl Christine von H. wie auch Elisabeth B. fielen auf mehrfache Weise aus ihrer Rolle als „normale Frauen“, was eine wichtige Ursache für die Stigmatisierung und Pathologisierung der beiden war. Christine von H. heiratete als Adlige einen Bürgerlichen und liess sich wieder scheiden, sie studierte und arbeitete wissenschaftlich, sie reiste allein in der Welt herum und führte Prozesse. Elisabeth war die Tochter eines „deutsch-ungarischen Desserteurs und einer Kroatin“, sie setzte sich als Dienstmädchen zur Wehr gegen ungerechte Behandlung seitens ihrer Herrschaft, sie liess sich scheiden und gewann den Prozess und das Sorgerecht für ihren Sohn. Mit ihrem „devianten“ Verhalten machten die beiden Frauen auf sich aufmerksam. Sie waren anders als die Mehrheit ihrer Zeitgenossinnen, was Ärger, Unbehagen und Unsicherheit hervorrief. Die Arbeit versucht zu zeigen, dass die Welt der Anderen und Fremden, also auch die von devianten, oder (vielleicht) geisteskranken Personen, keine Gegenwelt ist, sondern bloss eine, aus „Normalperspektive“ gesehen, verschobene Wirklichkeit. So wie die „Anderen“ uns fremd oder „verrückt“ scheinen, so ver-rückt sind wir selbst aus einer anderen Perspektive.
Advisors: | Schaffner, Martin |
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Faculties and Departments: | 04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Historisches Seminar |
UniBasel Contributors: | Schaffner, Martin |
Item Type: | Thesis |
Thesis Subtype: | Master Thesis |
Thesis no: | UNSPECIFIED |
Thesis status: | Complete |
Last Modified: | 12 Mar 2018 07:57 |
Deposited On: | 06 Feb 2018 11:24 |
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