Häsler, Mirjam. "Die irrige Auffassung ein Pflegkind sei ein Verdienstobjekt". Das Kost-und Pflegekinderwesen im Kanton Basel-Stadt im 19. und im frühen 20. Jahrhundert. 2006, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.
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Abstract
Im Zentrum dieser Lizentiatsarbeit steht das Pflegekinderwesen in Basel-Stadt im 19. und im frühen 20. Jahrhundert. Sie widmet sich damit der Geschichte der ’kleinsten Leute’, die lange Zeit von der historischen Forschung vernachlässigt wurden. In einem einleitenden Schritt erläutere ich zunächst die verschiedenen Begriffe und Namen, welche fremdplatzierten Kinder in der Vergangenheit gegeben wurden. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden mit dem Oberbegriff „Pflegekinder“ alle Kinder bezeichnet, die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwuchsen, sondern für längere Zeit bei Verwandten oder fremden Familien lebten. Die baselstädtischen Akten des 19. Jahrhunderts bezeichneten fremdplatzierte Kinder als „Kostkinder“, im 20. Jahrhundert setzte sich mit dem Inkrafttreten der ersten kantonalen Pflegekinderverordnung allmählich die neutraleren Begriffe „Pfleg“- beziehungsweise „Pflegekinder“ durch.
Um die Erkenntnisse zum Pflegekinderwesen nicht isoliert zu bewerten und in den schweizerischen Kontext einzubetten, resümiere ich in einem ersten Teil der Arbeit die Situation von Pflegekindern in der Schweiz. Dabei versuche ich, die ’Tradition’ der Verkostgeldung und die Entwicklung der Waisen- und Kinderheime zu umreissen. Es stellt sich heraus, dass Waisenhäuser zunächst vor allem in Städten entstanden und sich aus den mittelalterlichen Spitälern entwickelten, die neben Kranken und Armen auch verlassene Kinder aufnahmen. Durch die Koppelung der Fürsorgeaufgaben mit den Disziplinierungsmassnahmen eines Zucht- und Arbeitshauses bis im 18. Jahrhundert waren die Waisenanstalten noch sehr lange stark vom repressiven Charakter geprägt. In ländlichen Gebieten, wo Waisenhäuser seltener errichtet wurden, war hingegen die Fremdplatzierung von Kindern in Familien häufiger. In vielen Pflegeorten war die Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft so gross, dass sich Kritik an diesem „Verkostgeldungs“- oder „Verdingkindersystem“ regte, was im 19. Jahrhundert eine Welle von Anstaltsgründungen zur Folge hatte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchsen in Basel-Stadt 2,7 Prozent aller Kinder in fremden Familien auf, was unter dem schweizerischen Durchschnitt von 4,0 Prozent lag. Im Kanton Basel-Landschaft lag die Pflegekinder-Quote hingegen bei überdurchschnittlichen 5,2 Prozent. Wie sich im Verlauf der Arbeit zeigt, war es in Basel-Stadt üblich, hauptsächlich kleinere Kinder aufs Land zu verkostgelden. Dieser Brauch nahm so grosse Ausmasse an, dass er am Ende des 19. Jahrhunderts in der altersmässigen Struktur der Bevölkerung seine Spuren hinterliess: 1888 war die Altersgruppe der Kinder bis zu fünf Jahren in der Stadt unterdurchschnittlich vertreten, auf der Landschaft dagegen waren die Verhältnisse umgekehrt.
Die Missstände und Unzulänglichkeiten der Familienverpflegung wurden im 20. Jahrhundert schrittweise behoben, als der Staat nach Inkrafttreten des ersten schweizerischen Zivilgesetzbuches im Jahr 1912 mehr und mehr Verantwortung im Bereich der ausserfamiliären Erziehung übernahm. Vor 1912 kannten gar nur drei Kantone eigene Verordnungen im Bezug auf das Pflegekinderwesen. Die baselstädtische Verordnung von 1906 sah die Aufsicht über sämtliche Kinder in fremden Familien bis zu ihrem 14. Altersjahr vor und nahm dabei eine Pionierrolle im schweizerischen Pflegekinderwesen ein. Bis im Jahr 1978 existierte keine auf nationaler Ebene gültige Verordnung zur Regelung des Pflegekinderwesens, so dass die rechtliche Situation für Pflegekinder von Kanton zu Kanton variierte. Eine effiziente Aufsicht über die Pflegeorte war aufgrund dieser stark zersplitterten Lage kaum möglich und so manche Kinder fielen durch die Maschen des mal dichter, mal lockerer geknüpften Fürsorgenetzes.
Der zweite Teil der Arbeit legt schliesslich den Fokus auf fremdplatzierte Kinder in der Geschichte Basels, wo sich die Obrigkeit seit dem 15. Jahrhundert armer Waisenkinder annahm. Seit 1667 nahm das erste Zucht- und Waisenhaus seinen Betrieb auf, in das Kinder nach ihrem zehnten Altersjahr aufgenommen und in dem sie erzogen wurden. Die Behörden hatten mit diesem Vorgehen offenbar eine zweckdienliche Trennung der Kinderfürsorge angestrebt: Kleinere und schwächliche Kinder wurden in Familien platziert, grössere leistungsfähige Kinder fanden Aufnahme im Waisenhaus, wo sie durch ihre Arbeit die Kosten des Unterhaltes selber mittragen mussten. Die Familienpflege war jedoch in vielen Fällen derart ungünstig, so dass das Waisenhaus im Verlauf des 19. Jahrhunderts Möglichkeiten schuf, auch kleinste Kinder aufzunehmen.
Die Quellenlage zum 19. Jahrhundert erlaubt einige punktuelle Einblicke in die Lage verkostgeldeter Kinder. Eine Aufsicht über die Pflegeplätze oder gar eine Bewertung ihrer Qualität existierte bis 1907 nicht, die Kantonsbehörden registrierten lediglich den Aufenthaltsort von niedergelassenen Kindern in fremden Familien, wie dies die Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetze jener Zeit vorschrieben. Die Lebensbedingungen von Kostkindern in den beiden Landgemeinden Riehen und Bettingen waren bisweilen desolat, wie eine Untersuchung eines Riehener Arztes in den 1870er Jahren zutage förderte. Die Hälfte der Kostorte betrieb die Kostkinderhaltung als Gewerbe und benutzte das eingehende monatliche Pflegegeld der Kinder als Verdienstmöglichkeit. Als Arbeitskräfte waren die Kinder jedoch kaum einsetzbar, da die meisten von ihnen Säuglinge oder noch klein waren. Über die Zustände in den Kostkinderhaltungen in der Stadt ist leider nichts erhalten, wie bereits erwähnt wurde, war es zudem üblich, kleinere Kinder aufs Land zu verkostgelden. Kostgeberinnen wie Kindeseltern stammten meisten aus niedrigen sozialen Schichten, wo die Arbeitssituation die Eltern dazu zwang, ihre Kinder in fremden Familien betreuen zu lassen, da beide Elternteile den Lebensunterhalt verdienen mussten.
Auch im 20. Jahrhundert war in den niedrigeren sozialen Schichten die Pflegekinderhaltung zu Verdienstzwecken noch lange weit verbreitet. Die Quellenlage erlaubt hier einen umfassenderen Einblick in das Pflegekinderwesen, so dass ich mich hier auf einige wenige zentrale Aspekte beschränken muss. Mit dem Jahr 1907 trat eine grosse Veränderung im Pflegekinderwesen Basels ein: Von diesem Zeitpunkt an regelten eine Verordnung sowie ein Ausführungsreglement die Bestimmungen, welche zur Aufnahme eines Pflegekinder erfüllt werden mussten; zudem wurde das Pflegekinderwesen dem Sanitätsdepartement unterstellt. Daneben wurde jeder Pflegeort durch Mitglieder des Basler Frauenvereins kontrolliert, der zu diesem Zweck eine Sektion „Pflegkinderwesen“ gegründet hatte. Welche Auswirkungen diese Bewilligungs- und Kontrollpflicht im Endeffekt auf die jeweiligen Pflegekinder hatte und inwieweit sich ihre Lebenssituation verbesserte, ist schwierig nachzuvollziehen, da das Quellenmaterial zum grössten Teil aus Akten der ausführenden Sanitätsbehörde und des „Pflegkinderwesens“ besteht. Ein messbarer Erfolg war jedoch die verbesserte hygienische Qualität der Pflegeorte, was sich in sinkenden Sterblichkeitsraten der Kinder manifestierte. Das „Pflegkinderwesen“ versuchte daneben stets, die Auffassung zu bekämpfen, dass das monatliche Kostgeld der Pflegekinder einen Hausverdienst darstelle. Das Geld war meistens knapp bemessen und falls es regelmässig einging, so reichte es nur zur Deckung der nötigsten Auslage. Das „Pflegkinderwesen“ musste fortwährend mit Bettchen, Kleider und Wäsche aushelfen und bezahlte allfällige Ausfälle von Kostgeld aus der eigenen Kasse. Alle diese Massnahmen trugen sicherlich dazu bei, dass sich die äusserlichen Bedingungen an den Pflegeorten stark verbesserten.
Das Kost- und Pflegekinderwesen in Basel-Stadt war stark von den sozialen Umwälzungen geprägt, die im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch das enorme Bevölkerungswachstum und die Migration einer grossen Arbeiterschicht nach Basel entstanden. Die Voraussetzungen, welche in diesem Stadtkanton mit seinen stark industriellen Zügen zu den hier beschriebenen Formen der Fremdplatzierungen führten, waren grundverschieden von denjenigen, wie sie Marco Leuenberger zum Verdingkinderwesen in den agrarischen Gebieten des Kantons Berns oder Loretta Seglias zum Schwabengängertum im Gebirgskanton Graubünden beschrieben haben.
Es zeigt sich, dass durch die Verwendung von Archivmaterial allein viele Fragen nur zum Teil und manche gar überhaupt nicht beantwortet werden konnten. Die Akten spiegeln die Sicht der Sanitätsbehörden, der sogenannten „Aufsichtsdamen“ und der weiteren Organe des „Pflegekinderwesens“ des Basler Frauenvereins wider. Einblicke in den Alltag von Pflegekindern und in das Leben in ihren Pflegefamilien mussten von wenigen Ausnahmen abgesehen aussen vor bleiben. Ihre Sichtweise ist jedoch unerlässlich, um das Bild des Basler Pflegekinderwesens, wie es in dieser Arbeit nachgezeichnet wurde, zu ergänzen und abzurunden. Für eine abschliessendere Bewertung wäre zudem ein Vergleich mit dem Pflegekinderwesen im Kanton Basel-Landschaft erforderlich, da die Geschichte dieses Halbkantons eng mit derjenigen von Basel-Stadt verflochten ist. Gerade für eine zeitliche Ausdehnung der Untersuchung auf frühere Jahrhunderte müsste sowohl die Stadt als auch die Landschaft berücksichtigen, da die beiden Basel bis 1833 in einem Kanton vereint waren. Als zusätzliche Recherchemöglichkeiten bieten sich zudem die Akten des Waisenhauses sowie der Vormundschaftsbehörden beziehungsweise der Zünfte an, welchen bis 1880 die Vormundschaften über Waisenkinder oblagen.
Die Geschichte von Pflegekindern ist so facettenreich, dass eine Lizentiatsarbeit wie die hier vorliegende nur einen kleinen Teil zur ihrer Aufarbeitung beitragen kann. Sie wird zudem nie in sich abgeschlossen werden können, da jedes Kinderschicksal eine eigene Realität darstellt. Um noch mehr Facetten der Geschichten von Pflegekindern zu erarbeiten, sind weitere historische Arbeiten unabdinglich. Daher muss meiner Meinung nach dem schweizerischen Bundesrat vehement widersprochen werden, wenn er befindet, dass aus heutiger Sicht weder Bedarf noch hohe Dringlichkeit für eine breiter angelegte Studie bestünde.
Um die Erkenntnisse zum Pflegekinderwesen nicht isoliert zu bewerten und in den schweizerischen Kontext einzubetten, resümiere ich in einem ersten Teil der Arbeit die Situation von Pflegekindern in der Schweiz. Dabei versuche ich, die ’Tradition’ der Verkostgeldung und die Entwicklung der Waisen- und Kinderheime zu umreissen. Es stellt sich heraus, dass Waisenhäuser zunächst vor allem in Städten entstanden und sich aus den mittelalterlichen Spitälern entwickelten, die neben Kranken und Armen auch verlassene Kinder aufnahmen. Durch die Koppelung der Fürsorgeaufgaben mit den Disziplinierungsmassnahmen eines Zucht- und Arbeitshauses bis im 18. Jahrhundert waren die Waisenanstalten noch sehr lange stark vom repressiven Charakter geprägt. In ländlichen Gebieten, wo Waisenhäuser seltener errichtet wurden, war hingegen die Fremdplatzierung von Kindern in Familien häufiger. In vielen Pflegeorten war die Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft so gross, dass sich Kritik an diesem „Verkostgeldungs“- oder „Verdingkindersystem“ regte, was im 19. Jahrhundert eine Welle von Anstaltsgründungen zur Folge hatte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchsen in Basel-Stadt 2,7 Prozent aller Kinder in fremden Familien auf, was unter dem schweizerischen Durchschnitt von 4,0 Prozent lag. Im Kanton Basel-Landschaft lag die Pflegekinder-Quote hingegen bei überdurchschnittlichen 5,2 Prozent. Wie sich im Verlauf der Arbeit zeigt, war es in Basel-Stadt üblich, hauptsächlich kleinere Kinder aufs Land zu verkostgelden. Dieser Brauch nahm so grosse Ausmasse an, dass er am Ende des 19. Jahrhunderts in der altersmässigen Struktur der Bevölkerung seine Spuren hinterliess: 1888 war die Altersgruppe der Kinder bis zu fünf Jahren in der Stadt unterdurchschnittlich vertreten, auf der Landschaft dagegen waren die Verhältnisse umgekehrt.
Die Missstände und Unzulänglichkeiten der Familienverpflegung wurden im 20. Jahrhundert schrittweise behoben, als der Staat nach Inkrafttreten des ersten schweizerischen Zivilgesetzbuches im Jahr 1912 mehr und mehr Verantwortung im Bereich der ausserfamiliären Erziehung übernahm. Vor 1912 kannten gar nur drei Kantone eigene Verordnungen im Bezug auf das Pflegekinderwesen. Die baselstädtische Verordnung von 1906 sah die Aufsicht über sämtliche Kinder in fremden Familien bis zu ihrem 14. Altersjahr vor und nahm dabei eine Pionierrolle im schweizerischen Pflegekinderwesen ein. Bis im Jahr 1978 existierte keine auf nationaler Ebene gültige Verordnung zur Regelung des Pflegekinderwesens, so dass die rechtliche Situation für Pflegekinder von Kanton zu Kanton variierte. Eine effiziente Aufsicht über die Pflegeorte war aufgrund dieser stark zersplitterten Lage kaum möglich und so manche Kinder fielen durch die Maschen des mal dichter, mal lockerer geknüpften Fürsorgenetzes.
Der zweite Teil der Arbeit legt schliesslich den Fokus auf fremdplatzierte Kinder in der Geschichte Basels, wo sich die Obrigkeit seit dem 15. Jahrhundert armer Waisenkinder annahm. Seit 1667 nahm das erste Zucht- und Waisenhaus seinen Betrieb auf, in das Kinder nach ihrem zehnten Altersjahr aufgenommen und in dem sie erzogen wurden. Die Behörden hatten mit diesem Vorgehen offenbar eine zweckdienliche Trennung der Kinderfürsorge angestrebt: Kleinere und schwächliche Kinder wurden in Familien platziert, grössere leistungsfähige Kinder fanden Aufnahme im Waisenhaus, wo sie durch ihre Arbeit die Kosten des Unterhaltes selber mittragen mussten. Die Familienpflege war jedoch in vielen Fällen derart ungünstig, so dass das Waisenhaus im Verlauf des 19. Jahrhunderts Möglichkeiten schuf, auch kleinste Kinder aufzunehmen.
Die Quellenlage zum 19. Jahrhundert erlaubt einige punktuelle Einblicke in die Lage verkostgeldeter Kinder. Eine Aufsicht über die Pflegeplätze oder gar eine Bewertung ihrer Qualität existierte bis 1907 nicht, die Kantonsbehörden registrierten lediglich den Aufenthaltsort von niedergelassenen Kindern in fremden Familien, wie dies die Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetze jener Zeit vorschrieben. Die Lebensbedingungen von Kostkindern in den beiden Landgemeinden Riehen und Bettingen waren bisweilen desolat, wie eine Untersuchung eines Riehener Arztes in den 1870er Jahren zutage förderte. Die Hälfte der Kostorte betrieb die Kostkinderhaltung als Gewerbe und benutzte das eingehende monatliche Pflegegeld der Kinder als Verdienstmöglichkeit. Als Arbeitskräfte waren die Kinder jedoch kaum einsetzbar, da die meisten von ihnen Säuglinge oder noch klein waren. Über die Zustände in den Kostkinderhaltungen in der Stadt ist leider nichts erhalten, wie bereits erwähnt wurde, war es zudem üblich, kleinere Kinder aufs Land zu verkostgelden. Kostgeberinnen wie Kindeseltern stammten meisten aus niedrigen sozialen Schichten, wo die Arbeitssituation die Eltern dazu zwang, ihre Kinder in fremden Familien betreuen zu lassen, da beide Elternteile den Lebensunterhalt verdienen mussten.
Auch im 20. Jahrhundert war in den niedrigeren sozialen Schichten die Pflegekinderhaltung zu Verdienstzwecken noch lange weit verbreitet. Die Quellenlage erlaubt hier einen umfassenderen Einblick in das Pflegekinderwesen, so dass ich mich hier auf einige wenige zentrale Aspekte beschränken muss. Mit dem Jahr 1907 trat eine grosse Veränderung im Pflegekinderwesen Basels ein: Von diesem Zeitpunkt an regelten eine Verordnung sowie ein Ausführungsreglement die Bestimmungen, welche zur Aufnahme eines Pflegekinder erfüllt werden mussten; zudem wurde das Pflegekinderwesen dem Sanitätsdepartement unterstellt. Daneben wurde jeder Pflegeort durch Mitglieder des Basler Frauenvereins kontrolliert, der zu diesem Zweck eine Sektion „Pflegkinderwesen“ gegründet hatte. Welche Auswirkungen diese Bewilligungs- und Kontrollpflicht im Endeffekt auf die jeweiligen Pflegekinder hatte und inwieweit sich ihre Lebenssituation verbesserte, ist schwierig nachzuvollziehen, da das Quellenmaterial zum grössten Teil aus Akten der ausführenden Sanitätsbehörde und des „Pflegkinderwesens“ besteht. Ein messbarer Erfolg war jedoch die verbesserte hygienische Qualität der Pflegeorte, was sich in sinkenden Sterblichkeitsraten der Kinder manifestierte. Das „Pflegkinderwesen“ versuchte daneben stets, die Auffassung zu bekämpfen, dass das monatliche Kostgeld der Pflegekinder einen Hausverdienst darstelle. Das Geld war meistens knapp bemessen und falls es regelmässig einging, so reichte es nur zur Deckung der nötigsten Auslage. Das „Pflegkinderwesen“ musste fortwährend mit Bettchen, Kleider und Wäsche aushelfen und bezahlte allfällige Ausfälle von Kostgeld aus der eigenen Kasse. Alle diese Massnahmen trugen sicherlich dazu bei, dass sich die äusserlichen Bedingungen an den Pflegeorten stark verbesserten.
Das Kost- und Pflegekinderwesen in Basel-Stadt war stark von den sozialen Umwälzungen geprägt, die im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch das enorme Bevölkerungswachstum und die Migration einer grossen Arbeiterschicht nach Basel entstanden. Die Voraussetzungen, welche in diesem Stadtkanton mit seinen stark industriellen Zügen zu den hier beschriebenen Formen der Fremdplatzierungen führten, waren grundverschieden von denjenigen, wie sie Marco Leuenberger zum Verdingkinderwesen in den agrarischen Gebieten des Kantons Berns oder Loretta Seglias zum Schwabengängertum im Gebirgskanton Graubünden beschrieben haben.
Es zeigt sich, dass durch die Verwendung von Archivmaterial allein viele Fragen nur zum Teil und manche gar überhaupt nicht beantwortet werden konnten. Die Akten spiegeln die Sicht der Sanitätsbehörden, der sogenannten „Aufsichtsdamen“ und der weiteren Organe des „Pflegekinderwesens“ des Basler Frauenvereins wider. Einblicke in den Alltag von Pflegekindern und in das Leben in ihren Pflegefamilien mussten von wenigen Ausnahmen abgesehen aussen vor bleiben. Ihre Sichtweise ist jedoch unerlässlich, um das Bild des Basler Pflegekinderwesens, wie es in dieser Arbeit nachgezeichnet wurde, zu ergänzen und abzurunden. Für eine abschliessendere Bewertung wäre zudem ein Vergleich mit dem Pflegekinderwesen im Kanton Basel-Landschaft erforderlich, da die Geschichte dieses Halbkantons eng mit derjenigen von Basel-Stadt verflochten ist. Gerade für eine zeitliche Ausdehnung der Untersuchung auf frühere Jahrhunderte müsste sowohl die Stadt als auch die Landschaft berücksichtigen, da die beiden Basel bis 1833 in einem Kanton vereint waren. Als zusätzliche Recherchemöglichkeiten bieten sich zudem die Akten des Waisenhauses sowie der Vormundschaftsbehörden beziehungsweise der Zünfte an, welchen bis 1880 die Vormundschaften über Waisenkinder oblagen.
Die Geschichte von Pflegekindern ist so facettenreich, dass eine Lizentiatsarbeit wie die hier vorliegende nur einen kleinen Teil zur ihrer Aufarbeitung beitragen kann. Sie wird zudem nie in sich abgeschlossen werden können, da jedes Kinderschicksal eine eigene Realität darstellt. Um noch mehr Facetten der Geschichten von Pflegekindern zu erarbeiten, sind weitere historische Arbeiten unabdinglich. Daher muss meiner Meinung nach dem schweizerischen Bundesrat vehement widersprochen werden, wenn er befindet, dass aus heutiger Sicht weder Bedarf noch hohe Dringlichkeit für eine breiter angelegte Studie bestünde.
Advisors: | Haumann, Heiko |
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Faculties and Departments: | 04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Osteuropäische und neuere Geschichte (Haumann) |
UniBasel Contributors: | Haumann, Heiko |
Item Type: | Thesis |
Thesis Subtype: | Master Thesis |
Thesis no: | UNSPECIFIED |
Thesis status: | Complete |
Last Modified: | 12 Mar 2018 07:57 |
Deposited On: | 06 Feb 2018 11:25 |
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