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Zur Wiederentdeckung von Otto Rank. Eine kritische Analyse des Revivals einer einst diskreditierten Position

Leemann, Noemi. Zur Wiederentdeckung von Otto Rank. Eine kritische Analyse des Revivals einer einst diskreditierten Position. 2010, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Abstract

Abstract
EinleitungDie Master-Arbeit beschäftigt sich mit der seit den 1980er-Jahren angelaufenen «Wiederentdeckung» des Freud-Schülers Otto Rank (1884-1939). Einst wichtige Figur der jungen psychoanalytischen Bewegung, später aber diskreditierter Dissident, blieb Rank lange aus der psychoanalytischen Historiographie und Traditionsbildung ausgeschlossen. Heute wird Rank von verschiedenen Feldern der psychoanalytischen Theorie und Technik (u.a. von der Objektbeziehungstheorie, der pränatalen Psychologie und der Kulturpsychologie) als «Gründervater» in Anspruch genommen. Für Ranks Fehlen im psychoanalytischen Kanon wird die offizielle von der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) propagierte Historiographie, insbesondere Freuds autorisierter Biograph Ernest Jones, verantwortlich gemacht. Die nun erst späte Beachtung von Ranks umfassendem Werk sei, so der Vorwurf, die Auswirkung einer tendenziösen Geschichtsschreibung, welche die schwierige Formierungsphase der frühen Psychoanalyse einzig aus der Perspektive der Freud’schen Orthodoxie beschreibe und jede Abweichung von Freuds Lehre systematisch pathologisiere. Rank wird aber nicht nur als Opfer psychoanalytischer Geschichtspolitik dargestellt; die derzeitige Rank-Renaissance feiert ihn vor allem als den bisher verkannten Vorläufer heutiger psychoanalytischer, psychologischer und philosophischer Paradigmen.
Im engeren Sinne geht es in der vorliegenden Untersuchung so auch darum, die Rhetorik der «Entdeckung» von Rank als «Vorläufer» kritisch zu hinterfragen und aufzuzeigen, inwiefern sich darin die im Anschluss an Georges Canguilhem und Gaston Bachelard als feldspezifische illusio verstandene Vorstellung einer als linear fortschreitenden Wissenschaft verbirgt. Die heutige Rank-Lektüre, so die zentrale These, wird nämlich nicht als eine zeitlose Wahrheit wiederentdeckt, die gleichsam in ihrer zeitgenössischen Erscheinung in die heutigen Geschichts- und Lehrbücher eingepflanzt werden kann, sondern erst in der Verbindung mit gegenwärtigen Diskursen sinnfällig. In einem analytischen Zweierschritt werden unter diesem Blickwinkel akademische und ideologische Gründe für die Rank-Renaissance unterschieden, um dann Ranks Ausscheiden aus der psychoanalytischen Traditionsbildung vor dem spezifischen historischen Kontext der 1920er-Jahre zu erklären.
Otto Ranks BiographieOtto Rank begegnet Sigmund Freud als er gerade mal 20 Jahre alt ist. Auf Vermittlung von seinem Hausarzt Alfred Adler stellt sich Rank Freud und seinem Kreis im Frühjahr 1905 mit dem Manuskript von Der Künstler vor und stößt auf offene Ohren. Wenig später erhält er als bezahlter Sekretär der so genannten Mittwoch-Gesellschaft, die sich von 1902-1908 jeden Mittwoch in Freuds Wohnung in der Berggasse in Wien trifft, eine Anstellung. Mit Freuds finanzieller Hilfe studiert Rank Philosophie und Germanistik und schließt 1911 das Studium mit der Dissertation Die Lohengrinsage ab; Es ist die erste Dissertation, welche die psychoanalytische Methode innerhalb eines philologischen Faches anwendet. Seit seinem Vortrag über das Inzestmotiv am 10. Oktober 1906 ist Rank vollwertiges Mitglied des inneren psychoanalytischen Kreises und zu Freuds «rechter Hand» geworden. Die enge Zusammenarbeit der beiden zeigt sich in konkreten Publikationsprojekten, unter anderem erscheint Ranks Name ab der 4. Auflage der Traumdeutung von 1914 mehr als 10 Jahre lang als Co-Autor auf dem Titelblatt. Außerdem veröffentlicht Rank in dieser Zeit auch selbständig etliche Artikel von stattlichem Umfang, die sich mit den kulturtheoretischen, nichtärztlichen Aspekten der Psychoanalyse befassen. Auch alle publizistischen Unternehmungen der psychoanalytischen Frühgeschichte sind mit der Person Ranks verknüpft: Er arbeitet für das Jahrbuch, das erste psychoanalytische Periodikum, ist maßgeblich an der Redaktion der 1913 ins Leben gerufenen Internationalen Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse beteiligt und ist Gründer und Redakteur von Imago. Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, die ein Jahr davor das erste Mal erscheint. Natürlich wird Rank auch Mitglied des 1913 gegründeten Geheimen Komitees, einer Art selbsternannten Führungselite der IPV, welche nach dem Trennungskonflikt mit C. G. Jung die Entwicklung der erst drei Jahre alten IPV lenken soll und in der Folge, in den 1920er-Jahren, zum wichtigsten Kern der endgültig institutionalisierten Psychoanalyse wird. Die wöchentlichen Rundbriefe an die Mitglieder des Komitees verfassen Rank und Freud gemeinsam. Nach Kriegsende, als der seit 1918 bestehende und von Rank geleitete Internationale Psychoanalytische Verlag unter der Nachkriegs-Inflation leidet, ermutigt Freud Rank als erster nicht-ärztlicher Psychoanalytiker tätig zu werden und schickt ihm regelmäßig AnalysandInnen. Als Rank aus dieser Erfahrung heraus im Jahre 1922 gemeinsam mit dem Budapester Sándor Ferenczi ein Buch über die so genannte «aktive» Technik schreibt, sind Karl Abraham in Berlin und Ernest Jones in London höchst beunruhigt. Freud ist – trotz der neuartigen und unkonventionellen Thesen - vorerst auf Ranks Seite und unterstützt ihn auch bei Konflikten, die Rank mit Abraham und Jones wegen Angelegenheiten im Verlag und den Periodika austrägt. Die Auseinandersetzungen zwischen den vier Protagonisten, alle Mitglieder des Geheimen Komitees, verstärken sich allerdings, als 1923 Freuds Krebserkrankung bekannt und die Frage seiner Nachfolge akut wird. Als Rank 1924 Das Trauma der Geburt veröffentlicht und erneut die Freudsche Orthodoxie in Frage stellt, eskalieren die Spannungen. Im April 1924 reist Rank in die Vereinigten Staaten und der Streit wird brieflich weiter geführt. Kaum zurück in Wien, tritt er als Leiter des Verlags und als Hauptschriftleiter der Zeitschrift zurück und wird aus dem Geheimen Komitee ausgeschlossen. Überstürzt plant Rank die nächste Amerika-Reise; er kommt allerdings nur bis Paris und kehrt dann, so betonen die anderen Mitglieder des Geheimen Komitees, schuldbewusst und an schweren Depressionen leidend nach Wien zurück. Die Aussöhnung innerhalb des Geheimen Komitees scheitert, Rank übersiedelt nach Paris und später, ohne seine Frau, in die USA. Im Jahre 1929 tritt Rank ohne weitere Erklärung aus der IPV aus. Im Gegensatz zu Adler und Jung nimmt er keine anderen AnalytikerInnen mit. Insbesondere in seiner therapeutischen Technik, aber auch in seinen theoretischen Überlegungen entfernt sich Rank in den folgenden Jahren sehr stark von Freud und dem orthodoxen Kanon. 1930 wird Rank aus der American Psychoanalytical Association (APsaA) ausgeschlossen. Ranks AnalysandInnen müssen sich gar einer erneuten Analyse unterziehen, wenn sie als praktizierende AnalytikerInnen Mitglieder der APsaA bzw. der IPA bleiben wollen. In den USA ist Rank schließlich auch in einem ganz anderen Arbeitsfeld tätig, in der Ausbildung zur Sozialarbeit. In seinen späteren Werken wird das Thema der Selbstentfaltung und Selbstbefreiung wichtig; er nennt seine Therapie nun nicht mehr Psychoanalyse, sondern Willenstherapie. Otto Rank stirbt am 31. Oktober 1939 in New York an einer Racheninfektion, einen Monat nach Freuds Tod.
Von akademischen GründenZur Interpretation des gegenwärtigen Rank-Revivals werden zunächst Faktoren akademischer Natur benannt: Die Rede von der «Krise der Psychoanalyse» und die nach «innen» und nach «aussen» getragenen Klagen, etwa über die institutionelle Zersplitterung oder den ärztlichen Standesdünkel, sind zwar nicht neu und für das psychoanalytische Selbstverständnis beinahe konstitutiv, die genauere Betrachtung des aktuellen Diskurses macht aber deutlich, was die derzeitige Krise besonders charakterisiert: Robert S. Wallersteins Ruf nach einem «Common Ground of Psychoanalysis», wie er seit den 1990er-Jahren in der IPV diskutiert wird, hat nämlich zu einer offenen Debatte und dazu geführt, dass die Abschließungsmechanismen der orthodoxen Psychoanalyse und insbesondere die Instrumentalisierung psychoanalytischer Historiographie für die Gruppenbildung und Identitätsstiftung unter Kritik geraten sind und nun vermehrt verschiedene Standpunkte psychoanalytischen Denkens diskutiert werden. Die lange bipolar zwischen apologetischer und revisionistischer Geschichtsschreibung ausgerichtete und sehr Freud-zentrierte psychoanalytische Historiographie verliert an polemischer Schärfe. Es erwacht ein biographisches und theoriegeschichtliches Interesse an frühen SchülerInnen und WeggefährtInnen von Freud, die gleichsam als VorläuferInnen von heute diskutierten Standpunkten «entdeckt» werden. Eine Entwicklung, die aus institutioneller Sicht logisch erscheint, vor dem Hintergrund der Überlegungen von Georges Canguilhem und Gaston Bachelard aber problematisiert werden kann: So wird die Vorstellung des Vorläufertums als eine Verschleierung des Paradoxes kritisiert, dass der Wissenschaftsbetrieb zwar verlangt, jede neue These als eine Überholung vergangener Erkenntnisse zu verteidigen, sich diese aber gleichzeitig in einen linearen, der Wahrheit verpflichteten Raum einfügen soll.
Von ideologischen GründenIn einem zweiten Untersuchungsschritt geht es darum, phänomenologisch, in Bezug auf die aktuell gesellschaftlich vorherrschende Ideologie, oder - im Foucaultschen Sinne gesprochen – im Hinblick auf gegenwärtige Diskurse der Subjektivierung nach Gründen zu fragen, die Ranks Denken heute revivalfähig machen. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit Ranks Gedankengebäude – insbesondere mit dem Buch Das Trauma der Geburt (1924) – zeigt, dass Ranks Konzeption des Menschen als ein aufgrund der Kompensation des Geburtstraumas schöpferisch veranlagten Wesens, dem in der Debatte um Gouvernementalität verhandelten unternehmerischen Selbst strukturanalog ist. Die Ablösung von der Mutter vollzieht sich bei Rank im psychologischen Sinne durch die Identifizierung mit der väterlichen, auf schöpferischer Tätigkeit beruhenden symbolischen Außenwelt und geht parallel mit der Erlangung von Autonomie. Ein Prozess, der zwei extreme Ausprägungen annehmen kann: entweder führt das intuitive Erkennen des Geburtstraumas über die Identifizierung mit schon bestehenden Symbolen hinaus und hin zu schöpferischer Tätigkeit oder, im anderen Extrem, scheitert das schöpferisch veranlagte Wesen und die pathologische Einstellung führt zu Regression und Stillstand. Der Glaube an das schöpferische Potenzial des Individuums erfülle nun heute, so argumentieren AutorInnen einer kritischen Soziologie, eine gesellschaftliche Funktion: Luc Boltanski und Eve Chiapello identifizieren den eigenverantwortlichen, kreativen und mobilen Unternehmer als Idealtypus des gegenwärtigen, flexiblen Kapitalismus und die Figur des Künstlers gleichsam als Leitbild ökonomischer Rechtfertigungslogiken. Ulrich Bröckling versteht die allgegenwärtige Rede von Kreativität gar als gouvernementales Programm im Sinne von Foucault. Beobachtungen, die Ranks Wiederentdeckung insbesondere vor dem Hintergrund der Überlegungen von Nikolas Rose brisant machen, der argumentiert, dass überall, wo es um Regierungspraxis im Zusammenhang mit ethischen Standards, um die Beurteilung von sozialen Sachverhalten oder um individuelle Pathologie gehe, psychologisches Wissen beansprucht werde.
Von der «reinen Psychologie» zum «Therapeuten der Zukunft»Im letzten Kapitel wird schließlich der historische Kontext, in dem Ranks Werk angesiedelt ist, genauer beleuchtet. Es wird klar, dass Ranks Denken – ebenso wie sein Revival - zeitgebunden ist und mit den in den 1920er- Jahren verhandelten Problematisierungen verknüpft zu verstehen ist. Auch Ranks Ausscheiden aus der psychoanalytischen Bewegung ist kontextbedingt zu erklären: Mit der Professionalisierung der Psychoanalyse und der darauf folgenden Ent-autorisierung von Laienanalytikern einerseits und andererseits mit der zunehmenden Unterwerfung der Psychoanalyse unter die akademische Kultur der medizinischen Disziplin, wie sie in erster Linie von Karl Abraham an der 1920 gegründeten Berliner Poliklinik betrieben wird. Eine Entwicklung, in der die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften gleichsam zu einer Nebenbeschäftigung therapeutisch tätiger Analytiker wird, die nicht mehr alles, vom Mythos bis zur sozialen Bewegung, aus ihrer praktischen Arbeit heraus verstehen müssen.
Advisors:Arni, Caroline
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Bereich Neuere und Neueste Geschichte > Allgemeine Geschichte des 19./20. Jhds (Arni)
UniBasel Contributors:Arni, Caroline
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:12 Mar 2018 07:58
Deposited On:06 Feb 2018 11:26

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