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Naši und die Generation der Sieger. Nationale Identität zwischen Weltkriegsmythos und 21. Jahrhundert

Mijnssen, Ivo. Naši und die Generation der Sieger. Nationale Identität zwischen Weltkriegsmythos und 21. Jahrhundert. 2009, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60398/

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Abstract

Zu Beginn des Jahres 2005 ist der post-sowjetische Raum in Bewegung. Kurz zuvor führen Massendemonstrationen auf dem Kiever Majdan zur «Orangen Revolution». Die Jugend spielt dabei eine tragende Rolle. Auch in Kirgisien und Georgien kommt es nach mutmasslich gefälschten Wahlen zu «Tulpen»- und «Rosenrevolutionen». Während diese Revolutionen im Westen gefeiert werden als Triumph der demokratischen Kräfte über autoritäre Regime, zeigt sich die russische Regierung irritiert. Pro-westliche und liberale Kräfte im Land äussern die Hoffnung auf eine «Birkenrevolution» in Russland selbst. In der Politik, den Medien und unter Wissenschaftlern wird spekuliert, ob die Jugend das unter Putin «normalisierte» politische System in Russland zu destabilisieren vermag.
Eine neue Elite?
Scheinbar aus dem Nichts tritt am 15. Mai 2005 eine neue Organisation ins Rampenlicht der politischen Bühne Russlands: Die Demokratische Antifaschistische Jugendbewegung Naši (Die Unsrigen). Erst einen Monat davor offiziell gegründet, mobilisiert sie kurz nach dem Den‘ Pobedy (Tag des Sieges) 60‘000 Jugendliche, die symbolisch ihre Verbundenheit mit den Veteranen des Grossen Vaterländischen Krieges – die russische Bezeichnung für den Zweiten Weltkrieg – bekunden. Die Manifestation übermittelt eine klare Botschaft: Hier zeigt sich eine neue Generation, die bereit ist, in die Fussstapfen der Sieger über den Faschismus zu treten.
Die Haltung kommt auch im Gründungsmanifest von Naši zum Ausdruck: Nichts weniger als eine Revolution wird versprochen, in der eine patriotisch gesinnte Generation, die «an die Zukunft Russlands glaubt», die «Defätisten» (poražency) der neunziger Jahre ablöst.
Der Auftritt wird auf höchster Ebene wohlwollend aufgenommen. Bereits am 30. Mai 2005 empfängt Präsident Vladimir Putin eine Delegation von Naši-Kommissaren rund um den Gründer Vasilij Jakemenko im Kreml. Die Naši-Bewegung erklärt ihre Unterstützung für den Präsidenten, da dieser als erster Russlands Anspruch auf eine weltweite Führungsposition im 21. Jahrhundert formuliert habe.
Die Reaktionen auf den Auftritt sind jedoch nicht überall positiv. Liberale Kommentatoren und Medien sprechen von Naschisten (našisty) und vergleichen die Bewegung mit faschistischen Jugendorganisationen wie der Hitler-Jugend oder den italienischen Schwarzhemden.
Regierungstreue Zivilgesellschaft
Trotz des offensichtlichen Wohlwollens, mit dem der Kreml die patriotisch gesinnte Jugendorganisation betrachtet, soll der Eindruck vermieden werden, hier handle es sich um eine staatlich gelenkte Organisation. Vasilij Jakemenko betont 2005, der Impuls für die Gründung sei von einer Reihe von regionalen Jugendorganisationen am Vorabend des 60. Jahrestags des russischen Sieges im Grossen Vaterländischen Krieg gekommen. Wirklich glaubwürdig sind diese Beteuerungen nicht.
Vladislav Surkov, der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration und Architekt der Ideologie der Souveränen Demokratie, hatte die Entstehung der Organisation eng begleitet: Bereits an den Vorbereitungstreffen für die Gründung der Organisation in Solnečnogorsk Ende Februar 2005 soll er teilgenommen haben. Ausserdem bezeichnet Naši in ihrem Manifest explizit Surkovs Souveräne Demokratie als ihre ideologische Grundlage. Es erstaunt deshalb kaum, dass Naši als Marionetten-Jugendbewegung des Kremls bezeichnet wird. Der Aufmarsch nach dem Tag des Sieges 2005 wäre ohne den massiven Einsatz von staatlichen Ressourcen kaum möglich gewesen. Er sollte demnach jenen, die in Russland eine «Birkenrevolution» planen, das Mobilisierungspotential des Kremls vor Augen führen.
Diese Arbeit geht davon aus, dass Naši eine dem Kreml gegenüber loyale Jugendorganisation ist, die als Reaktion auf die «Orange Revolution» gegründet wurde. Diese These ist nicht neu. Was diese Arbeit zur Forschung beiträgt, ist eine Analyse des Naši-Diskurses. Im Zentrum stehen dabei Vladislav Surkovs Ideologem der Souveränen Demokratie einerseits und der Mythos des Sieges im Grossen Vaterländischen Krieg anderseits. Es soll argumentiert werden, dass dieser Mythos den Diskurs von Naši prägt. Über den Mythos, der als eine Ausprägung der kollektiven russischen Erinnerung verstanden wird, kann eine kollektive Identität für die junge, im post-sowjetischen Russland aufgewachsene Jugend artikuliert werden. Im Mythos werden verschiedene diskursive Momente verbunden: Patriotismus, Russland als Grossmacht, nationale Einheit und Souveränität. Gleichzeitig wird die eigene Verwundbarkeit und die Notwendigkeit betont, die Nation allgemein und die Jugend speziell vor Bedrohungen durch innere und äussere Feinde zu schützen. Diese verschiedenen Feinde werden im Naši-Diskurs kollektiv und vereinfachend in dem Signifikanten Faschismus vereinigt, welcher im russischen politischen Diskurs oft gleichbedeutend mit Feind ist. In diesem Sinne fördert die Kriegsmetapher ein Weltbild, das Russland als «belagerte Festung» darstellt, deren Sicherung oberste Priorität hat. Diese antagonistische Wahrnehmung der Welt und das Aggressionspotential, das sich darin verbirgt, laufen jedoch jenen Elementen im Diskurs von Naši und der Souveränen Demokratie zuwider, welche betonen, dass Russland ein offenes, modernes und zukunftsgerichtetes Land sei. Auf eine theoretische und methodische Einführung folgen zwei Kapitel, in denen die oben erwähnten Thesen empirisch untersucht werden.
Patriotische Erziehung und Kriegsmythos
Im Kapitel Der postsowjetische Frühling 2005 wird zunächst eine kurze Analyse der politischen und sozialen Situation der Jugend zur Zeit der «Orangen Revolution» vorgenommen. Darauf folgt eine Diskussion der wichtigsten Momente des Naši-Diskurses.
Durch die Texte vieler russischer Akademiker zieht sich wie ein roter Faden die Feststellung, dass innerhalb der russischen Jugend ein grosses destabilisierendes Potential vorhanden sei. Die russische Jugend wachse in einer Art von ideologischem Vakuum auf: Ihr fehle wegen der Umwälzungen der neunziger Jahre und der Globalisierung eine klare kollektive Identität. Dies liege einerseits an der unzulänglichen Jugendpolitik des Staates, anderseits an der Flut von westlichen Ideen, die seit dem Zerfall der Sowjetunion nach Russland ströme.
Es herrscht deshalb weitgehend Einigkeit, dass es eine zentrale Aufgabe des Staates in Russland sein muss, diese Flut zu kanalisieren durch die Erarbeitung einer russischen, «patriotischen» Ideologie und Erziehung. Darüber, was dies konkret bedeutet, gehen die Meinungen auseinander. Im Kreml erarbeitet Surkov das Ideologem der Souveränen Demokratie. Demnach ist die Souveränität Russlands in höchstem Masse gefährdet, wenn es nicht gelinge, die eigene Schwäche zu überwinden und dem Westen (sprich: vor allem den USA) auf der geopolitischen und ideellen Ebene entgegenzutreten.
Naši versteht sich als Teil dieser Anstrengungen. So gibt es innerhalb der Bewegung eine Abteilung, die den Jugendlichen «patriotische Werte» vermitteln soll. Diese werden vor allem als Respekt für die Kultur und Geschichte des Landes sowie als die «Erhöhung des Prestiges des Staats- und Militärdienstes» definiert.
Kriegsrhetorik, Souveränität und Feinde
Nun wäre es vereinfachend, den Naši-Diskurs auf einen militärischen und staatszentrierten «Patriotismus» zu reduzieren; schliesslich spricht die Organisation oft von Modernisierung und definiert sich selbst als «demokratisch». Wer jedoch weiter liest, bemerkt, dass Demokratie für Naši gleichbedeutend ist mit Konkurrenz in allen Belangen. Kreml-Ideologe Vladislav Surkov folgend, fordert Naši die Schaffung einer Souveränen Demokratie in Russland. Nur so könne sich das Land im internationalen Wettbewerb durch Konkurrenzfähigkeit behaupten.
Vor dem Hintergrund der gefühlten Bedrohung Russlands durch «Orange» wird die Gefährdung der Souveränität Russlands um einiges akuter: Die russische Regierung sieht die «Revolution» in der Ukraine als vom Westen inszenierter Staatsstreich, in dem die pro-russische Elite durch eine pro-westliche ersetzt wurde. In diesem Sinne befürchtet Surkov eine «samtene Absorption» (mjagkoe pogloščenie) Russlands durch den Westen mittels «oranger Polit-Technologien». Naši wird zu einem Teil des Verteidigungs-Dispositivs.
Womit sich der Kreis zur Naši-Demonstration vom 15. Mai 2005 schliesst. Die Wahl des Zeitpunktes ist kein Zufall. Erstens besetzt der Sieg im Grossen Vaterländischen Krieg eine absolut zentrale Stellung innerhalb fast aller gesellschaftlichen Diskurse im heutigen Russland. Im offiziellen Diskurs in Russland dominiert eine Geschichtsversion, die den Sieg zum Mythos macht, zum Triumph eines heldenhaft kämpfenden sowjetischen Volkes unter der Führung der Russen gegen einen unmenschlichen Gegner. Der Soziologe Boris Dubin schreibt, alle konkurrierenden Versionen würden ausgeblendet oder sogar aktiv bekämpft.
Zweitens erlaubt die Kriegsrhetorik eine klare Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Naši bezieht diese in ihrem Gründungsmanifest auf die Gegenwart: Die Organisation kämpfe gegen den «widernatürlichen Bund von Liberalen und Faschisten, Westlern und Ultranationalisten, internationalen Fonds und internationalen Terroristen», die Russland schwächen und sogar zerstören wollten.
Die Verbundenheit der Generationen, welche die Jugendorganisation immer wieder betont, erhält unter diesem Blickwinkel eine neue Bedeutung. Die zentrale diskursive Position eines mythisierten Sieges der Russen im Weltkrieg erlaubt erstens die Artikulierung eines scheinbar kohärenten Weltbildes, in dem sich die «patriotische» Jugend als historisch legitimiert präsentiert. Zweitens rechtfertigt die klare Unterscheidung zwischen Freund und Feind in der Rhetorik des Krieges Aktionen gegen die Anderen, welche sich in einer «normalen» politischen Auseinandersetzung nicht rechtfertigen liessen.
Barry Buzan und seine Koautoren kreierten für diese Art der diskursiven Artikulation den Ausdruck «securitization»: Darin werden gewisse politische Themen mit Verweis auf eine akute Bedrohung des Landes oder des Volkes entpolitisiert. Die Massnahmen gegen diese Bedrohungen müssen demnach rasch und radikal sein, um das Politikfeld zu sichern. Allerdings betonen die Autoren des «securitization»-Ansatzes auch, dass die «Versicherheitlichung» akute Probleme höchstens stabilisieren und nicht wirklich lösen kann. Zu einer solchen Stabilisierung im Bereich der Jugendpolitik trug die Kreml-Unterstützung und die Mobilisierung von Naši das Ihrige bei: Die «patriotischen» Jugendorganisationen behielten die Kontrolle über die Strasse, eine pro-westliche «Birkenrevolution» blieb aus.
Widersprüchliche Identitäten
Während diese Sicherheitsrhetorik im Inneren zu einer Stabilisierung beitrug, führt sie im Bereich der internationalen Beziehungen immer wieder zu Problemen. Im Kapitel «Erinnert euch!»: Naši und der «Bronzene Soldat» werden einige dieser Probleme besprochen. Der Konflikt mit Estland zeigt, welche Widersprüche sich im Mythos des Sieges im Grossen Vaterländischen Krieg verbergen und zu welchen Konflikten sie führen können.
Die Kontroverse um den «Bronzenen Soldaten» in Tallinn, die Ende April und anfangs Mai 2007 ihren Höhepunkt erreichte, war neben den Manifestationen am Tag des Sieges ein zweiter zentraler Anlass für Naši. Die Verlegung des Denkmals zu Ehren des Sieges der Roten Armee über Nazideutschland durch die estnische Regierung aus der Innenstadt in einen Soldatenfriedhof am Stadtrand löste wüste Ausschreitungen aus, die Hunderte von Verletzten und ein Todesopfer forderten. In Moskau belagerte Naši daraufhin sechs Tage lang die estnische Botschaft. Aktivisten griffen die Botschafterin körperlich an. Die diskursive Struktur folgte einem klaren Freund-Feind-Schema: Die estnischen «Faschisten» hätten das Grab der sowjetischen Sieger geschändet, weshalb Naši heute die Pflicht habe, erneut den «Faschismus» zu bekämpfen.
Die radikale Rhetorik vermag zwar den Mythos des Sieges zu verteidigen – die Widersprüche dahinter löst es jedoch nicht: Dazu gehört, dass die Russische Föderation in ihren heutigen Grenzen nicht mehr der Sowjetunion von einst entspricht. Die Frage, wie mit den unklaren Grenzen der heutigen politischen Gemeinschaft umzugehen ist, bleibt unbeantwortet. Gerade die russischsprachige Bevölkerung von Estland stellt für die Artikulation einer russischen nationalen Identität ein grosses Problem dar: Wenn die ethnischen Russen in Estland als Teil der Nation verstanden werden, setzt sich die russische Regierung dem Vorwurf des neoimperialen Gebarens aus – etwas, das dem Identitätsentwurf von Surkov und Naši und den im Manifest geäusserten Zielen zuwiderläuft: Hier wird betont, Russland wolle andere Länder gerade nicht militärisch-politisch dominieren, sondern setze auf die Anziehungskraft der russischen Kultur und Wirtschaft. Russland will kein schwerfälliges, auf Gewalt basierendes Imperium wie die Sowjetunion sein. Und doch führten die radikalen Aktionen von Naši und die konfrontative Rhetorik dazu, dass sich in Estland und in der EU die Reihen gegen Russland schlossen. Naši trug somit paradoxerweise dazu bei, den Anspruch auf weltweite Führerschaft durch soft power zu schwächen.
Advisors:Haumann, Heiko
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Osteuropäische und neuere Geschichte (Haumann)
UniBasel Contributors:Mijnssen, Ivo and Haumann, Heiko
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:12 Mar 2018 07:59
Deposited On:06 Feb 2018 11:27

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