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«This conference is therefore our own, the Conference of the Developing Countries»: die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung von 1964 und die Entstehung des Nord-Süd-Konflikts

Misteli, Samuel. «This conference is therefore our own, the Conference of the Developing Countries»: die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung von 1964 und die Entstehung des Nord-Süd-Konflikts. 2010, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60408/

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Abstract

Die Arbeit untersucht die Debatten an der Gründungskonferenz der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) sowie die Vorgeschichte und den historischen Kontext der grössten zum damaligen Zeitpunkt je durchgeführten internationalen Konferenz. Als Leitthese dient die Behauptung, dass an der ersten Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen verschiedene Stränge der globalen Nachkriegsgeschichte zusammentrafen, die als Kombination den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas die Bildung einer Allianz ermöglichten, welche die Entwicklungsprobleme der südlichen Länder nachhaltig in den diplomatischen Diskurs einbrachten. Die erste UNCTAD-Konferenz, so die These, markierte den Auftritt der «Dritten Welt» auf der Weltbühne und die Einrichtung einer neuen Nord-Süd-Konfliktlinie, welche die internationalen Debatten der folgenden Jahre und Jahrzehnte prägen sollte.
Eine Konferenz für die Entwicklungsländer
Anders als die WTO, der IWF oder die Weltbank wird die UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development) heute kaum mehr als relevante Akteurin auf der internationalen Bühne wahrgenommen. Tatsächlich hatte die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen seit Beginn der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts einen kontinuierlichen Bedeutungsverlust zu verzeichnen, der 1995 mit der Gründung der Welthandelsorganisation WTO – einer Organisation mit ähnlichen inhaltlichen Schwerpunkten wie die UNCTAD aber weit umfangreicheren Kompetenzen – definitiven Charakter annahm.
Die heutige Wahrnehmung der UNCTAD steht in deutlichem Kontrast zur Bedeutung, die der Konferenz beigemessen wurde, als sie im Frühjahr 1964 erstmals durchgeführt wurde und noch im selben Jahr als permanentes Organ der UN-Generalversammlung institutionalisiert wurde. Die Einberufung einer grossen Konferenz zu Problemen des Welthandels und der Entwicklung, wie sie von den Entwicklungsländern seit Beginn der 60er-Jahre mit zunehmender Vehemenz gefordert worden war, weckte auf der Seite der Entwicklungsländer immense, teilweise unrealistische Hoffnungen, auf der Seite der Industrieländer hingegen Ängste vor einer Umwälzung der Strukturen, die ihnen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine bis dahin ungekannte Wohlstandsvermehrung ermöglicht hatten.
Dass die Einberufung der Konferenz gegen den Widerstand der Industrieländer überhaupt möglich wurde, war in erster Linie eine Folge der Dekolonisation: Die Zahl der Entwicklungsländer Asiens und Afrikas war im Zuge des Dekolonialisierungsprozesses stark angewachsen; seit Beginn der 60er-Jahre verfügten sie in der UN-Generalversammlung gemeinsam mit den lateinamerikanischen Staaten über die Stimmenmehrheit und mithin über ein potentes Druckmittel. Bereits seit Mitte der 50er-Jahre existierten Bemühungen, die gemeinsamen Interessen der neuen Länder auf der internationalen Ebene geltend zu machen und sich von den Konfliktschemen des Kalten Krieges zu emanzipieren. In einer Reihe von Konferenzen (Bandung, Belgrad, Kairo) gelang es den Ländern des Südens, eine Allianz zu formen, die mit der Durchsetzung der Handels- und Entwicklungskonferenz schliesslich einen ersten grossen Erfolg feiern konnte.
Die Entwicklungsländer erhofften sich von der Konferenz – und vor allem von ihrer Institutionalisierung – die Veränderung der Welthandelsstrukturen, in denen sie das Fortwirken kolonialer Abhängigkeiten zu erkennen glaubten. Insbesondere das GATT, das bevorzugte Instrument der entwickelten Länder zur Koordinierung der internationalen Handelsbeziehungen, wurde dabei heftiger Kritik unterzogen. Im Konferenzverlauf verhärteten sich die Fronten zwischen Entwicklungs- und Industrieländern kontinuierlich, wobei erstere auf die Gründung einer neuen Welthandelsorganisation mit umfangreichen Kompetenzen drängten, und letztere die Korrekturen am Welthandelssystem möglichst gering zu halten suchten. Den Entwicklungsländern gelang es – nicht zuletzt bestärkt durch die abwehrende Haltung der Industrieländer – die Einheitsfront, welche die Einberufung der UNCTAD ermöglicht hatte, von einer losen Allianz in eine feste Form zu überführen: Am Ende der Konferenz stand die «Gemeinsame Erklärung der 77 Entwicklungsländer» und die Gründung der G77, jenes Zusammenschlusses der südlichen Länder, der sich fortan auf der internationalen Bühne als Gegenpart des industrialisierten Nordens verstehen sollte. Der Konferenzbeschluss, die UNCTAD als permanentes UN-Organ zu installieren, garantierte dabei gleichzeitig auch, dass der aufgebrochene Nord-Süd-Konflikt ein permanentes Forum haben würde.
Aufbau der Arbeit
Die Masterarbeit geht davon aus, dass an der UNCTAD-Gründungskonferenz verschiedene Stränge der globalen Nachkriegsgeschichte zusammentrafen: Der Dekolonisationsprozess und die damit verbundene Entstehung zahlreicher neuer Staaten; der Entwicklungsdiskurs, der in den 50er-Jahren zu Prominenz gelangt war und in den 70er-Jahren auf dem Höhepunkt angelangen sollte; die zunehmende staatliche Verflechtung und die vermehrte Einrichtung überstaatlicher Interaktionsräume, deren wichtigster die Vereinten Nationen waren; das Austarieren der globalen Handelsordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Federführung der USA neu gestaltet worden war; und schliesslich der Kalte Krieg, dessen Verwerfungen auch an der ersten UNCTAD-Konferenz sichtbar waren, wenn auch nicht mehr in den bis dahin gängigen Mustern. Das Zusammentreffen all dieser Narrativen, denen ein ausführlicher erster Teil der Arbeit gewidmet ist, machte die erste Handels- und Entwicklungskonferenz zu einem Kristallisationspunkt der Verschiebungen in der internationalen Ordnung.
Im Hauptteil der Masterarbeit – die sich theoretische Orientierung bei global- und kulturgeschichtlichen sowie bei postkolonialen Ansätzen holt – wird versucht, anhand der Konferenzdebatten die dominierenden Diskurse und Leitmotive des entstandenen Nord-Süd-Gegensatzes herauszuarbeiten. Das geschieht aus drei verschiedenen Perspektiven, die gleichsam als exemplarische Schlaglichter dienen: In einem ersten Teilkapitel werden die Plenardebatten analysiert, wobei die Suche nach den gemeinsamen Vorstellungen und Interessen, welche die Einheit der Entwicklungsländer möglich machten, im Vordergrund steht. Anhand der Statements in der Vollversammlung wird das normative, intellektuelle und politische Fundament der entstehenden Allianz entschlüsselt. Dabei wird deutlich, dass die Entwicklungsländer einerseits über eine gemeinsame Problemanalyse verfügten, die eine strukturell ungerechte Welthandelsordnung geltend machte; und dass andererseits der Begriff der «Entwicklung», der seit Beginn der 60er-Jahre prominent in den internationalen Debatten figurierte, ein gemeinsames, legitimes Ziel vorgab. Beide Diskurse, der Struktur- wie der Entwicklungsdiskurs, bezogen einen Grossteil ihrer argumentativen Schlagkraft daraus, dass sie auf einflussreiche ökonomische Theorien der Zeit Bezug nahmen und so wissenschaftliche Legitimität geltend machten.
In einem zweiten Teilkapitel wird die kontroverseste Komiteedebatte untersucht – mit dem Ziel, die zuvor identifizierten abstrakten Diskursmuster in ihrer materiellen Anwendung zu zeigen und so fassbarer zu machen. Das vierte Komitee hatte darüber zu befinden, ob aus der Handels- und Entwicklungskonferenz eine permanente Institution hervorgehen sollte. Während die Industrieländer eine institutionelle Neuordnung des internationalen Handelssystems mit dem Verweis auf das Vorhandensein des GATT ablehnten, pochte die zunehmend geschlossene Allianz der Entwicklungsländer auf die Einrichtung einer Institution, welche die Entwicklungsproblematik stärker gewichten sollte. Die intensiven Verhandlungen, die immer wieder und vor allem gegen Ende zu scheitern drohten, mündeten schliesslich im Entscheid, die UNCTAD als permanentes UN-Organ einzurichten. Für die Industrieländer, die in der Schlussabstimmung unterlagen, war der Entscheid insofern verkraftbar, als die Kompetenzen des GATT nicht beschnitten wurden und die künftige Organisation mit Entscheidungsmechanismen ausgestattet werden sollte, die eine permanente Minorisierung der Industrieländer verhinderten.
Anders als in den beiden vorangegangenen Abschnitten ist der Fokus im letzten Teilkapitel des Hauptteils nicht auf die Länderblocks, sondern auf einen Einzelfall gerichtet: Die Schweiz, obwohl 1964 noch nicht Mitglied der Vereinten Nationen mit einer 25-köpfigen Delegation an der UNCTAD vertreten, vertrat die weitgehend repräsentative Position eines Industrielandes und liess sich kaum als unabhängige Stimme im UNCTAD-Konzert vernehmen. Die Verwendung des Beispiels Schweiz zielt indes nicht auf Verallgemeinerung, sondern ermöglicht eine präzisere Analyse: Anders als in den beiden anderen Teiluntersuchungen werden nicht primär Konferenzdokumente ausgewertet sondern Akten des Schweizerischen Bundesarchivs. Die Betrachtung verwaltungsinterner Dokumente – in erster Linie die Korrespondenz der damaligen Handelsabteilung des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements – erlaubt einen Blick auf die UNCTAD, der unmittelbarer ist als der aus den Konferenzdokumenten erschliessbare, da die Ideen- und Interessendispositionen des Industrielandes Schweiz in den internen Dokumenten nicht durch diplomatische Verklausulierungen verstellt sind. Der Schweiz war zwar daran gelegen, eine ihrer Neutralitätspolitik entsprechende Vermittlerposition einzunehmen, diese formale Position schlug sich aber nicht in inhaltlichen Zugeständnissen nieder. Bemerkenswert ist die Bewertung der Konferenz, welche die Schweizer Delegation in ihrem Schlussbericht vornimmt: Zufrieden mit den inhaltlichen Ergebnissen der Konferenz und der eigenen Rolle, erkennen die Delegierten, dass an der UNCTAD eine Verschiebung der globalen politischen Konstellationen stattgefunden hat und dass künftig Nord-Süd-Probleme weit prominenter als bis anhin auf der internationalen Agenda figurieren werden. Für die Schweiz, so Vize-Delegationsleiter Paul Jolles, sei eine neue handelspolitische Front entstanden, die sie auf lange Zeit hinaus beschäftigen werde.
Schlussfolgerungen: Macht und Ohnmacht der Entwicklungsländer
Die Schlussfolgerungen der Arbeit decken sich mit der Analyse, welche die Schweizer UNCTAD-Delegation bereits unmittelbar nach der Konferenz vornahm: An der ersten UN-Handels- und Entwicklungskonferenz manifestierten sich bedeutende Verschiebungen sowohl in den Diskursmustern als auch in den effektiven politischen Konstellationen der internationalen Beziehungen der Nachkriegsgeschichte. Indem die Entwicklungsländer den westlichen Industriestaaten geschlossen die Stirn boten, indem sie erstmals in gebündelter Form eine Reihe weitreichender Forderungen auf der internationalen Ebene geltend machten, erweiterten sie die globalen politischen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um eine zusätzliche Dimension: Zum Konflikt zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten gesellte sich die Auseinandersetzung zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden. Die erste UNCTAD-Konferenz stellt also deshalb eine Wegmarke der Geschichte des 20. Jahrhunderts dar, weil sie den Auftritt der «Dritten Welt» auf der Weltbühne markiert. Der Begriff der «Dritten Welt», in dem die Erweiterung des globalen Kräftegefüges um eine neue Komponente Ausdruck fand, war zwar schon früher geprägt worden, erst an UNCTAD I aber trat die Staatengruppe, die damit bezeichnet wurde, als komplett geschlossene Einheit auf, die Forderungen jenseits der Konfliktschemen des Kalten Krieges artikulierte. Die Veränderung der globalen Konfliktlinien war umso nachhaltiger, als es den Entwicklungsländern gelang, in zähen Verhandlungen die Einrichtung der Konferenz als eines permanenten Organs der Vereinten Nationen durchzusetzen. Der aufgebrochene Nord-Süd-Konflikt erhielt dadurch gleichsam ein institutionalisiertes Kleid, die von der Dritten Welt gesetzten Themen hatten ein permanentes Forum.
Freilich offenbarte UNCTAD I nicht nur die neue Macht der Einheitsfront der Entwicklungsländer, sondern auch deren Ohnmacht: Es mochte ihnen gelungen sein, mit lange hegemonialen Vorstellungen in den globalen Entwicklungsdiskussionen zu brechen, es mochte ihnen gar gelungen sein, die Institutionalisierung eines UN-Organs durchzusetzen, das die Industrieländer nicht gewollt hatten. Es war aber auch offensichtlich, dass damit noch keine tatsächlichen Veränderungen der internationalen Wirtschaftsstrukturen erreicht waren: Die Industrieländer mochten sich widerwillig in die Verabschiedung weitgehend unverbindlicher Prinzipien gefügt haben, sie waren aber um keinen Preis bereit gewesen, die neue Organisation mit Kompetenzen auszustatten, welche eine effektive Umgestaltung der internationalen Wirtschaftsordnung zugelassen hätte. Bei allem, was die Entwicklungsländer an der Konferenz erreicht hatten war doch bereits erkennbar, dass ihr normatives und numerisches Potential auf lange Frist der ökonomischen und politischen Macht der Industriestaaten unterlegen sein musste.
Advisors:Lengwiler, Martin
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Bereich Neuere und Neueste Geschichte > Neuere Allgemeine Geschichte (Lengwiler)
UniBasel Contributors:Lengwiler, Martin
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:12 Mar 2018 07:59
Deposited On:06 Feb 2018 11:27

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